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ADHS: Was in Schule wirklich wichtig ist

von Dr. Hans Biegert

Begabung und Intelligenz sind keine Garantien für Schulerfolg und gute Noten

  • oder anders ausgedrückt:

schlechte Noten, Sitzenbleiben bedeutet noch lange nicht, dass ein Schüler unintelligent oder unbegabt sei.

  • Für Eltern, Lehrer, Schulberater lautet daher eine zentrale Frage:

Was kann Schule, was können – ja müssen! – wir Lehrer tun, damit unsere Schüler im größtmöglichen Umfang über ihr Begabungspotential verfügen?

Eine Antwort darauf gibt der amerikanische Psychologe Paul Watslavik (* 25. Juli 1921 in Villach/Kärnten, Österreich; † 31. März 2007 in Palo Alto, Kalifornien) (bekannt durch sein Buch: Anleitung zum Unglücklichsein):

„Problemlösungsprozesse zwischen Menschen spielen sich zu 80% auf der Beziehungsebene ab.“

Das bedeutet für Schule:
Die Fachkenntnisse eines Lehrers sowie Methode und Didaktik des Unterrichts oder das fachliche Interesse des Schülers sind eine notwendige aber keineswegs hinreichende Garantie für erfolgsorientierten Unterricht; sie wirken sich (nach Watslavik) zu allenfalls 20% auf den Unterrichtserfolg aus.

80% der Unterrichtseffektivität hingegen definiert sich über die Beziehungsqualität zwischen Lehrer und Schüler (Schulsozialklima). Gelungener, guter, interessanter, erfolgreicher, schülerorientierter (auf wen oder was sollte sich denn Unterricht sonst orientieren?) Unterricht bedeutet demnach zu allererst gute Beziehungen zwischen Schüler und Lehrer. Was aber heiß dies konkret für die schulpädagogische Praxis?

a)    Angstfreies Lernen als pädagogisches Lernprinzip
b)    Ermutigender Zuspruch als Verhaltensmaxime
c)    Vertrauen als pädagogische Einstellung 
d)    Einfühlungsvermögen und Geduld als Grundhaltung

 

a)    Angstfreies Lernen als pädagogisches Lernprinzip.

Humaner, am Kind orientierter Unterricht muss Ängste von Kindern und Jugendlichen offen werden lassen. Nur dann ist es möglich, lernhemmende Angst zu überwinden und die Schularbeit so zu gestalten, dass ängstliche Unterrichtssituationen vermieden werden. Schulische Angst entsteht vor allem durch fehlenden menschlich-emotionalen Kontakt und durch unterrichtlichen Leistungsdruck. Also nicht Prüfung, Noten und Leistungsdruck an sich ängstigen, sondern eine daraus abgeleitete Verurteilung und eine damit verknüpfte Befürchtung, nicht akzeptiert, desintegriert, beschämt zu werden. Die Folgen schulischer Angst sind lernstörend:

  • Übergroße Angst macht dumm; sie behindert nämlich das Denken, weil sie Kinder und Jugendliche in einem Notzustand versetzt, in dem diese nicht mehr ruhig überlegen können.
  • Andauernde Angst macht krank,  weil sich übermäßige Anspannung auch körperlich ausdrückt, z.B. in Bauchschmerzen, Durchfall, unruhig Schlaf, Ablenkbarkeit,…..
  • Starke Angst macht unkonzentriert, weil die Schüler abwehren wollen, was sie bedrückt und sich dabei nicht ungestörtem Lernen widmen können.
  • Lähmende Angst macht stumm, den Kindern und Jugendlichen verschlägt es die Sprache, sie können nicht spontan mitreden und deshalb nicht erfolgreich lernen.

Oft „zeigen“ Schüler dann keine Angst mehr, sondern äußern sich in vermeintlicher Gleichgültigkeit gegenüber Lernen, Unterricht, Schule. Tatsächlich aber können Lernunwille und Apathie dabei Folge verdrängter Angst sein, weil dies auf Dauer nicht ertragen wurde. Angstfreies Lernen erwartet von uns Lehrern, dass wir uns von uns aus nach den Ängsten der Kinder und Jugendlichen erkundigen. „Pädagogischer Takt“ heißt dies, und ist eine wichtige Voraussetzung für angstfreies Lernen,  d.h. das Kind ganzheitlich, also stets gleichzeitig / synchron in seiner kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung wahrzunehmen und zu begleiten. Dies muss bedeuten

  • Achtung vor dem Kind
  • Respekt für seine Rechte
  • Toleranz für seine Gefühle
  • Bereitschaft aus seinem Verhalten über sein Wesen zu lernen

Ohne das Offensein für das, was ein Schüler uns  mitteilt, ist uns kaum eine echte Zuwendung/ Anteilnahme möglich. Wir brauchen die Artikulation des Kindes, um es zu verstehen und begleiten zu können. Auf der anderen Seite benötigt das Kind seinen freien Raum, um sich adäquat artikulieren zu können. Das Lernen ergibt sich so aus dem Zuhören, was wiederum zum noch besseren Zuhören und Eingehen auf das Kind führt. Pädagogischer Takt ist die Fähigkeit, sich in Kinder einzufühlen. Taktvoller Umgang äußert sich vor allem darin, dass wir uns wohlwollend, mit positiver Erwartungshaltung und rücksichtsvoll dem Schüler gegenüber verhalten. Wir vermeiden damit, diese durch Worte, Handlungen, Mimik und Gestik zu verletzen, bloßzustellen oder in Versagenssituationen zu beschämen. Pädagogisch taktvolles Handeln achtet die Würde des Heranwachsenden und stärkt damit das gegenseitige Verständnis; es ist in diesem Sinne keine „Forderung“ an den Lehrer, sondern eine Chance, in der Schule besser miteinander zu leben.

 

b)    Ermutigender Zuspruch als Verhaltensmaxime

Ermutigender Zuspruch mindert Schulängste. Auch Lehrerinnen und Lehrer können in einer ermutigenden Arbeitsatmosphäre entspannter und damit besser lernen. Ebenso sollen auch die Schüler durch anerkennende Worte ermutigt werden; es gilt hier, die positiven Seiten des Schülers wahrzunehmen und die Kinder Wertschätzung spüren zu lassen. Eine Lernsituation ermutigend zu gestalten, heißt auch, mehr zu unterstützen, statt ständig zu bewerten; ständig abgefragt, geprüft, kontrolliert und zensiert zu werden. Zum ermutigenden Lernen gehört eben auch die Erfahrung des Fehlermachens, ohne sofort be- oder verurteilt zu werden. Methode des ermutigenden Unterrichts ist die Hinwendung zum Schüler, die  Beziehungsaufnahme. Sie bedeutet eben nicht, auf den Schüler „einzuwirken“, sondern zu ihm in eine „helfende Beziehung“ einzutreten:

auf-richten statt unter-richten! (heißt die Devise).

Lehrer müssen in der Schule auch das Nichtkönnen ernst nehmen. Wir alle sind Könner und Nichtkönner zugleich, Schüler wie Lehrer. Wenn das so ist, wäre es doch eigentlich unsere Pflicht, beide Sachverhalte anzuerkennen. Ich habe aber den Eindruck, dass uns in der Schule nur das Können angenehm ist, während wir das Nichtkönnen (vor)schnell als Dummheit, Faulheit, Desinteresse, elterliche Verwöhnung… ständig diskriminieren. Das ist unmenschlich in dem Sinne, dass wir uns wünschen, Begrenztheit des Menschen möge nicht sein; das geht nicht! Wir dürfen unsere Schüler nicht zum Können zwingen, indem wir das Nichtkönnen diffamieren. Ganz im Gegenteil gilt: Nur dort, wo das Nichtkönnen auch seine legitime Chance hat, wird Können überhaupt erst richtig möglich. Zwang zum Können macht Angst vor dem Versagen, erzeugt Entmutigung. Das Akzeptieren von Nichtkönnen macht Mut zum Ausprobieren,  zur Leistung, erzeugt also Ermutigung.

 

c)    Vertrauen als pädagogische Einstellung

Dazu gehört für Kinder und Jugendliche in erster Linie liebevolle und anregende Zuwendung. Wenn wir, die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer harmonisch zusammenarbeiten, uns Zeit für die Schüler nehmen, die Schüler erst nehmen und achten, ihnen die Schulwelt positiv deuten und sie zu Leistungen ermutigen, die ihr Selbstwertgefühl stärken, dann wird damit das verlässlichste Fundament für Vertrauen gelegt.

Das Gefühl von Vertrauen leitet sich hauptsächlich von der Bindung des Schülers an seine Lehrer ab. Ausschlaggebend für das Aufbauen von Bindungen und Beziehungen zwischen den Schülern und uns Lehrern ist offenbar, welche Einstellung wir Lehrer zu unseren Schülern haben und in welchem Maße wir für ihre Mitteilungen und Gefühle empfänglich sind. Herzliche und warme Lehrer-Schüler-Beziehungen sind bindungsfördernd und vertrauensbildend, kalte Interaktionen sind bindungshinderlich und fördern Misstrauen.

Nur dann können Kinder zu psychisch stabilen, kooperationsfähigen und liebevollen Menschen heranwachsen, wenn ihnen vor allem Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen entgegengebracht wird. Im Hinblick auf pädagogisches Handeln in der Schule heißt das:

 der Art der zwischenmenschlichen Beziehung kommt eine entscheidende Rolle zu. Je nach Art der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern wird sich auch das sachorientierte Handeln, das Lernen, die Anstrengungsbereitschaft und die Lernhaltung bei den Schülern unterschiedlich ausprägen und entfalten.

Die von Vertrauen geprägte Beziehung ist das tragende Fundament. Weil Schulkinder ihr Ich am Du ausbilden, sehe ich die menschlich-persönliche Beziehung als das Wichtigste, das Umfassende an, in das alles pädagogische Handeln eingebettet sein muss. Das haben auch Pädagogen wie Pestalozzi, Schleiermeier, Nohl und der Philosoph Buber immer wieder hervorgehoben. Ich betone diese Einsicht um der Auffassung von vornherein entgegenzutreten, Erziehung könne mittels Beziehungs- und Kommunikationstechniken nach Plan ablaufen und gehöre in den Bereich des „Machbaren“. Das, was in der pädagogischen Beziehung geschieht, ist stets persönlich, individuell und existentiell. Immer geht es dabei um einmalige Menschen in einmaligen Lebensumständen, die sich begegnen, die Erwartungen aneinander stellen, sich verstehen, verfehlen und sich gegenseitig beeinflussen, so drückte es der Pädagoge Andreas Flitner aus. Dadurch, wie ein Schulkind sein Ich in der Beziehung zu seinem Lehrer ausbilden kann, wird sein weiterer Bildungs- und Lebensweg wesentlich beeinflusst.

 

d)    Einfühlungsvermögen und Geduld als Grundhaltung

Kinder und Jugendliche suchen und brauchen Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen, was nicht heißt, dass diese immer erfüllt werden.  Einfühlungsvermögen in der Schule mein im weitesten Sinne die Fähigkeit

  • zuhören zu können
  • sich in die Lage des Schülers hineinzuversetzen
  • mitzufühlen, einfühlend zu verstehen
  • zu erkennen, wie es in dem Schüler aussieht und worum es ihm wirklich geht.

Wahre Anteilnahme zeigt sich darin, dass das Kind sich in seiner momentanen Befindlichkeit vom Lehrer angenommen fühlt, so dass ein Gefühl von Nicht-Verstanden werden und Verlassenheit erst gar nicht aufkommen kann. Ein Kind, das sich gehört und ernst genommen fühlt, braucht seinen Wunsch usw. auch nicht ständig zu wiederholen oder langatmig zu erklären. Die „Botschaft“ ist ja gehört worden und nun kann /könnte abgewartet werden, was daraus wird. Voraussetzung für Einfühlungsvermögen ist also beim Lehrer:

  • die Bereitschaft wirklich zuzuhören und den Schüler dabei anzusehen.
  • zunächst wertfrei wahrzunehmen, was der Schüler vorbringt und es einfach als seinen Standpunkt gelten lassen, auch wenn es zunächst nicht akzeptierbar erscheint – gemessen an den eigenen Vorstellungen.
  • vorübergehende Distanz zu den eigenen Erwartungen und Wünschen.

In der Reflektion darüber, was uns als Lehrer/Schulleiter eigentlich daran hindert, den Kindern und Jugendlichen zuzuhören und sich vorübergehend in die hineinzuversetzen, habe ich in meiner Schul- und Unterrichtspraxis immer wieder folgende Punkte feststellen zu müssen:

  • Ungeduld / Zeitdruck (ne´, jetzt auf keinen Fall!)
  • Bequemlichkeit (wir haben nun wahrlich genug am Hals)
  • Unsicherheit (das war schon immer so/das hat es ja noch nie gegeben!)
  • Vorurteile (wie etwas sein sollte)
  • Mangelnde Flexibilität (starres Festhalten an Bisherigem)
  • Angst vor Neuem/Unbekanntem (wie sollen wir auch das noch schaffen?)
  • Angst vor Überlastung (nicht Nein-sagen können)
  • Verstecktes Misstrauen (der will sowieso nur seinen eigenen Vorteil)
  • Trotz/Beleidigtsein (der nimmt mich gar nicht ernst)

Unsere innere Haltung oder Einstellung bestimmt letztlich darüber, wie sehr wir uns unseren Schülerinnen und Schülern öffnen oder verschließen, ob wir eher Nähe zulassen oder auf Distanz gehen. Hier spielt der Selbstwert, die Selbsteinschätzung, das Selbstbild und das Selbstkonzept des Lehrers eine große Rolle. Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl haben einen relativ sicheren Stand. Sie können Nähe gut zulassen und sich folglich  leichter in andere hineinversetzen, weil sie nicht so sehr befürchten, den eigenen Standpunkt durch neue Eindrücke zu gefährden. Sie sind dadurch bereit Ungewohntes auf sich einwirken zu lassen und offen zu sein für das,  was sich daraus ergibt. Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl und folglich ausgeprägten Selbstzweifeln haben hingegen einen unsicheren Stand. Sie neigen  dazu, auf Distanz zu gehen, um sich damit vor einer möglichen Verunsicherung zu schützen. Sie sind bemüht, Dinge von sich fernzuhalten, die sie beunruhigen oder verunsichern, und sie sind verschlossen gegenüber dem, was nicht ins eigene Bild passt. Aus Angst, sich nicht durchsetzen zu können, hören sie gar nicht erst genau hin, reagieren vorschnell und mit Abwehr und verhalten sich tendenziell eher autoritär. Diese Haltung erschwert es tatsächlich, sich auf Kinder und Jugendliche einzustellen. Einfühlungsvermögen verlangt jedoch, sich selbst und die Schüler ernst zu nehmen und zu respektieren, das heißt, auch Schülern in der menschlichen Auseinandersetzung das gleiche Recht einzuräumen, das man für sich als Lehrer in Anspruch nimmt.

 

Was in Schule wirklich wichtig ist:

a)    Angstfreies Lernen als pädagogisches Lernprinzip
b)    Ermutigender Zuspruch als Verhaltensmaxime
c)    Vertrauen als pädagogische Einstellung 
d)    Einfühlungsvermögen und Geduld als Grundhaltung

 

Gilt all dies schlechthin für alle Schülerinnen und Schüler, so in besonderem Maße für Kinder mit ADHS und Teilleistungsstörungen, denn diese

  • erleben in Schule noch viel mehr Situationen angstbesetzten Lernens (nicht ohne Grund sind Angststörungen unter ADHS-Betroffenen im Sinne von Komorbidität viel stärker prävalent als unter Nicht-ADHS-Betroffenen).
  • erleben in Schule und Unterricht regelmäßig viel weniger ermutigenden Zuspruch, sondern eher negative Rückmeldung, Disziplinierung, Ausgrenzung.
  • erleben in Schule viel weniger Vertrauen, vertrauensvolle Zuwendung, akzeptierendes Verstehen. Sie, die ADHS-Kinder, sind oft jene, denen viel weniger zugetraut wird, ständig konfrontiert mit dem sublimen Vorwurf „sie könnten ja, wenn sie nur wollten.“
  • erleben in Schule viel weniger Einfühlungsvermögen und Geduld; sie sind jene, die oft als Chaoten und Störenfriede diffamiert und bloßgestellt werden, viel schneller des Unterrichts verwiesen werden und Disziplinarmaßnahmen erfahren, bis hin zur Ausschulung.

 

Alle Lehrer-Schüler-Situationen sind mit Gefühlen geladen. Das ist unvermeidlich und muss auch so sein, denn nur, wenn wir in unserem Verhalten als Lehrer unsere positiven Gefühle für unsere Schüler erkennen lassen, können diese zu der Überzeugung gelangen, dass sie wichtig für uns sind. Emotional kalte und gleichgültige Lehrer werden mit ziemlicher Sicherheit in ihrem Unterricht emotional gehemmte und tendenziell aggressiv-oppositionelle Schüler haben. Nicht auf einzelne pädagogische Maßnahmen kommt es an, sondern auf unsere richtige Einstellung zum Kind, zum Jugendlichen und (!) auf unsere Glaubwürdigkeit.

Mark Aurel drückte dies so aus: „Eine positive Einstellung ist unüberwindlich wenn sie echt ist.“

*gemeint ist: „wenn sie gelebt wird“:
 

zu ermutigen             statt                    zu verurteilen
zu verstehen              statt                   auszugrenzen
zuzuhören                  statt                    wegzugehen
anzuerkennen           statt                    zu ignorieren

                                     usw.

 

ADHS?

Mein Fazit : „Nicht das ADHS ist das Problem, sondern wie wir in der Schule damit umgehen !“

 
 

Dr. h.c. Hans Biegert
Leitender Schuldirektor und Schulträger

Bonn- Bad Godesberg, Dezember 2009
Literaturangaben und –nachweise auf Anfrage.
Hinweise und Ergänzungen nimmt der Autor dankend entgegen

Email: Hans.Biegert@HEBO-schule.de
Internet: www.hebo-schule.de