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Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom

ADHS - die Einsamkeit in unserer Mitte

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Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom
Karsten Dietrich
Verlag
Schattauer
ISBN-Nummer
13-978-3-7945-2653-6
Preis
34,99 €

Der Autor hat ein spannendes Buch über ADHS geschrieben und eine Theorie aufgestellt, die die Symptomatik der ADHS erklärbar macht, und diese wissenschaftlich profund untermauert.
Die bekannte Symptomatik der ADHS ist eine mangelnde Hemmung und eine Einschränkung in der Handlungsausführung. Der Autor führt das darauf zurück, dass ADHSBetroffene ihre Umwelt feindlicher wahrnehmen und sie sich ständig angegriffen fühlen. Auch das sogenannte Hyperarousal (Überwachheit), ein übersteigertes Autonomiestreben, ein ständiges Opponieren gegen Autoritäten, erklärt er mit der Theorie der fehlangepassten Sicherungsfunktion. Danach haben ADHS-Betroffene eine erhöhte Angriffswahrnehmung, gegen die sie sich ständig verteidigen müssen.
ADHSler sind sozusagen ständig in einer Art Verteidigungsmodus und reagieren aus diesem Modus heraus. Sie sind sehr schnell verunsichert, geraten dadurch schnell in Stress und sie wittern überall Gefahr und Angriff. Dieser Verteidigungsmodus führt zu verschiedenen Reaktionen, nämlich zu einer übersteigerten Angriffswahrnehmung und zu einem übersteigerten Autonomiebedürfnis. – Daraus resultieren Kritikunfähigkeit, Schuldzuweisungen an andere, sowie eine übertriebene Wahrnehmung der eigenen Abwertung durch andere. So fühlen sich ADHSler schnell gekränkt, ungerecht behandelt oder von anderen entwertet und verhalten sich dementsprechend.

Der Autor beschäftigt sich ausführlich mit dem Sicherheitssinn und den Sicherheitssystemen, die jeder Mensch hat, um auf Gefahren zu reagieren. Wissenschaftlich belegt gibt es drei aus der Entwicklungsgeschichte der Menschen nachweisbare Sicherheitssysteme:
Das älteste Sicherheitssystem ist das Mittelhirn-Sicherungssystem: MSS, mit Sitz in der zentralen Amygdala, dem periaquäduktalen Grau, und es bestimmt das Neugeborene. Das limbische Sicherheitssystem: LSS, mit Sitz im präfrontalen Cortex, der lateralen Amygdala, dem Hippocampus und dem Cingulum, löst das MSS ab und bestimmt das Verhalten des Kindes bis ins Schulalter.
Dann entwickelt sich das frontale Sicherungssystem: FSS, mit Sitz im orbitofrontalen Cortex, dem ventromedialen präfrontalen Cortex. Dieses Sicherungssystem ist das erwachsene System, das Kulturleistung und Bedürfnisaufschub zulässt und das der Mensch in unserer heutigen Zivilisation benötigt. Der Autor nennt das Kulturmodus. Normalerweise reagiert also der Erwachsene aus dem frontalen Sicherheitssystem heraus und nur bei Gefahr schaltet das Gehirn auf die früheren Sicherheitssysteme um. Impulsive Hirnreaktionen und Reflexe sind besonders geeignet, um einer nicht kulturellen Gefahr zu begegnen, denn nicht prozesskontrollierte Steuerung und Reflexsteuerung müssen in Gefahren uneingeschränkt funktionieren.

Kulturbefähigung ordnet sich dann der primären Hirnaktivitätsform unter, solange eine Gefahrensituation dies erfordert. Das kann man regelmäßig in Kriegssituationen beobachten. Das Umschalten auf die Reflexe und das limbische System ist somit ein Notfallprogramm und ein Überlebensvorteil.

Je stärker nun die ADHS ausgeprägt ist, desto schneller erfolgt eine Umschaltung aufs limbische System und desto schneller werden Informationen als drohende Gefahr interpretiert. Der ADHSler befindet sich unbewusst in größter Unsicherheit und daraus resultiert seine Fehlanpassung.
Der Sicherheitssinn der ADHSler steuert nun aber schon bei der geringsten Wahrnehmung von Unsicherheit um und reagiert impulsiv und reflexartig, als ob eine Gefahrenbewältigung notwendig wäre. Viel zu schnell wird Gefahr interpretiert, was einen Verlust der Kulturbefähigung nach sich zieht und sehr primitive Abwehrstrategien in Gang setzt. Ein Mensch, der durch den Sicherheitssinn eine Einschränkung seiner Kulturbefähigung erfährt, zeigt die Symptome der ADHS.

In Gefahren erfolgt dann eine Rückverlagerung des Entscheidungszentrums in primitivere Hirnregionen. Dieser Prozess wird Posterisierung genannt. Ist die Gefahr vorbei, erfolgt wieder eine Refrontalisierung und das Individuum ist wieder in der Lage, Kulturleistungen zu erbringen. ADHSler sehen sich dauernd unsicher wahrgenommenen Lebensumständen ausgesetzt und dies verschlechtert ihr zentrales Sicherheitssystem, welches posterisiert bleibt (und damit auf einer niedrigeren Stufe). Es erfolgt in diesem Fall dann keine Entspannung und es tritt keine empfundene Sicherheit auf.

Die Posterisierung wird dabei nicht bewusst wahrgenommen, es sei denn, sie erfolgt schnell.
Sie schränkt Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Betroffenen stark ein. Es gibt nun auch einen zentralen Sicherheitsregler. Dieser ist bei ADHS dahingehend verschoben, dass er schneller und ausgeprägter in primitivere Sicherheitsmodi schaltet. Hieraus resultieren unüberlegte Aggressionen statt abgewogene Reaktionen.

Der zentrale Sicherheitsregler ist dabei bei ADHS generell zu weit nach hinten eingestellt. Je weiter posterisiert wird, desto größer wird die Gefahrenerwartung. Im Sicherheitssinn gibt es keinen Zwang zur Kultur, sondern nur einen Zwang zur Rettung. Posterisierung ist sehr viel schneller als Refrontalisierung, Posterisierung verhindert außerdem Verbalisierung und Auseinandersetzung, weil es sich um eine primitive Flucht- und Rettungsreaktion handelt.

Neurophysiologisch handelt es sich hier bei der Frontalisierung um eine Öffnung der frontolimbischen Verbindung, worüber das Frontalhirn seine Kontrolle ausübt. In diesem Modus kann das Gehirn die Exekutivfunktion ausführen und diese ermöglicht auch, unliebsame Tätigkeiten zu verrichten und Einsicht in höhere Notwendigkeiten zu haben. Mit dieser Funktion der intakten frontolimbischen Verbindung kann der gesunde Mensch seine innere Emotionslage den Notwendigkeiten seiner übergeordneten Ziele folgend so gestalten, dass er seinen Willen gegen sich selbst richten kann. Bei ADHS bestimmen die Emotionen das Individuum. Eine genetisch zu hohe Grundempfindlichkeit des Sicherheitssinns und viele Unsicherheitswahrnehmungen führen dazu, dass bis zum siebten Lebensjahr des ADHS-Betroffenen eine Dauerposterisierung und eine verzögerte Refrontalisierung bestehen. Interessanterweise kann Methylphenidat die frontolimbische Verbindung regulieren und damit eine Refrontalisierung einleiten.

Durch die Posterisierung dagegen verliert das Individuum die Fähigkeit genau zu analysieren. Die Energie ist erheblich, die für die Abwendung der vermeintlichen Gefährdung aufgewendet werden muss. Kritik wird regelmäßig als Vorwurf interpretiert, Kränkungen werden subjektiv als intensiv erlebt. Die hohe Emotionalität einer intensiven Beziehung führt zu einer weiteren Steigerung der Angriffsempfindlichkeit und Kinder erleben sämtliche Einflussnahme der Erziehenden als Angriff.

Diese Theorie der veränderten Sicherheitswahrnehmung finde ich sehr spannend, weil sie die bei ADHS so typische Dünnhäutigkeit, die Daueranspannung und motorische Unruhe sowie die Impulsivität erklärt und auch die typische Eigenschaft der hyperaktiven ADHSler, dass diese bei Unterschreiten der Fluchtdistanz sehr aggressiv werden können. Ein sehr lesenswertes Buch, wenn man sich in die komplexen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse einarbeiten möchte. Der sehr gute Titel des Buches hat allerdings keinen zentralen Stellenwert und die Einsamkeit wird nur am Rande oder indirekt dargestellt.

Dr. Astrid Neuy-Bartmann

aus neue AKZENTE 93/2012