Kapitel 11 ihres Buches "Leben mit hyperaktiven Kindern"
von Dr. med. Johanna Krause, Nervenärztin und Psychotherapeutin
»Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden sollen.« (Rabelais)
Jeder, der mit Kindern in verantwortlicher Position Umgang hat, sollte sich darüber klar werden, daß mindestens 4 Prozent aller Kinder am hyperkinetischen Syndrom leiden. Trotz aller Anzeichen, die auf diese Erkrankung hinweisen, ist es möglich, daß alle Beteiligten - Eltern, Kinderärzte und Lehrer - nicht daran denken, daß ein Kind, das zappelt und nicht aufpasst, sich nicht absichtlich so verhält, sondern unter dieser Störung leidet. Schon die Erkenntnis, daß ein Schüler nicht gezielt den Lehrer mit seinen permanenten Störaktionen meint, entspannt zumindest das Verhältnis zwischen den beiden und kann dann dazu führen, daß beide ein Zeichen ausmachen, wann der Schüler sich wieder auf das Unterrichtsgeschehen einlassen muß. Wichtig für das hyperkinetische Kind ist, daß sein Verhalten, von dem es meist weiß, in welcher Weise es »nicht normal« ist, nicht dazu führt, daß es vor der ganzen Klasse blamiert wird; denn gerade Demütigungen werden Anlaß zur »Höchstleistung«.
Da auch Lehrer Menschen mit einem normalen Gefühlsleben sind, brauchen sie ebenso Erfolgserlebnisse im Beruf wie andere. An dieser Stelle konkurrieren nun hyperkinetische Kinder und Lehrer, oft sind die Erwachsenen unterlegen, weil sie nicht eine solche ausufernde Phantasie haben, um eine ganze Schulklasse permanent im Bann zu halten. Damit beginnt das große Unglück im Leben des Kindes, das den Sanktionen, die sein Verhalten zur Folge hat, ebenso hilflos ausgeliefert ist wie die Lehrer den Clownerien. Deshalb gilt als oberstes Gebot, keine Machtkämpfe auszufechten; denn die trägt das Kind schon im Familienkreis aus und ist deshalb routiniert. Jeder Lehrer wird in seinem Urteil sicher milder, wenn er verstehen lernt, daß das Kind nicht absichtlich so ist, sondern selbst wenn es will, sich oft nicht anders verhalten kann. Lehrer können hyperkinetischen Kindern helfen, ihr so schwieriges Leben zu meistern, indem sie ihnen Verständnis zeigen.
Nun kommt der schwierigste Teil dieser Ausführungen:
Kinder mit einem hyperkinetischen Syndrom sind in ihrer Seele sehr verletzlich, sie haben häufig ein beschädigtes Selbstbewußtsein, weil sie auch im Kindergarten oft schon Außenseiter waren. Sie besitzen jedoch eine gut ausgeprägte Fähigkeit, Ablehnung zu spüren, selbst wenn sie noch so gut versteckt wird; das heißt, ein Lehrer, der ein hyperkinetisches Kind nicht mag, muß zunächst in seinem Seelenhaushalt Ordnung schaffen, vielleicht in Gesprächen mit Kollegen versuchen zu verstehen, woher diese Ablehnungsgefühle kommen, bevor er sich in einer Weise dem Kind zuwenden kann, die beiden Erfolgserlebnisse ermöglicht. Sobald sich diese Kinder angenommen fühlen, können sie ihr Störverhalten eher kontrollieren. Außerordentlich motivierend sind für betroffene Kinder Lob und Anerkennung; innerhalb der Klasse sollte das hyperkinetische Kind nicht isoliert am Rande sitzen, weil es dann sicher weniger Zuwendung erhalten wird. Falls in der Sitzordnung die Möglichkeit besteht, das Kind an den Mittelgang zu setzen, kann der Lehrer durch beruhigendes Berühren der Schulter Nähe signalisieren. Das Kind wird eine solche stumme Geste als Aufforderung akzeptieren, sich dem Unterrichtsgeschehen zuzuwenden, ohne daß wegen ständiger Ermahnungen der Unterricht für alle unterbrochen werden muß. Bei den heutigen Klassengrößen sind die Möglichkeiten, dem einzelnen gerecht zu werden, selbstverständlich eingeschränkt, aber wenn man sich speziell eines solchen Kindes annimmt, profitiert davon die ganze Klasse. Sollten zufälligerweise mehrere Kinder mit hyperkinetischem Syndrom in einer Klasse sein, ist es in einer mehrzügigen Schule anzustreben, sie gleichmäßig auf mehrere Klassen zu verteilen, um eine Überforderung der anderen Kinder und des Lehrers zu vermeiden. Wichtig für alle Kinder ist ein eindeutiges Verhalten, die Anweisungen müssen klar sein. Die Strafen, die bei Nichtbeachtung ausgesprochen werden, müssen ebenfalls vorher bekannt sein und sollten immer bei allen gleich sein, damit sich das hyperkinetische Kind nicht auch noch durch schärfere Strafen benachteiligt fühlt.
Diese Empfehlung beinhaltet, daß im Ärger keine übertriebenen Sanktionen erfolgen sollten, die das Verhältnis zwischen beiden zusätzlich belasten. Obwohl diese Kinder ein großes Vergnügen daran haben können, den Lehrer lächerlich zu machen, sollte dies nicht mit gleicher Münze heimgezahlt werden, weil eine Bloßstellung vor der Klasse, möglichst wiederholt, zu großen seelischen Schäden führt. Ein Lehrer braucht viel Humor, dann wird das betroffene Kind eher einlenken!
Je mehr Druck auf ein solches Kind ausgeübt wird, um so mehr wird es versuchen zu beweisen, daß es sich nicht »unterkriegen« läßt und wird das Ausmaß an Ungezogenheit erhöhen: Der Zappelphilipp entwickelt sich zusätzlich zum bösen Friederich.
Aus Gesprächen mit Eltern betroffener Kinder wird immer wieder deutlich, daß Lehrer, die sich neben den Eltern am intensivsten über einen wichtigen Lebensabschnitt mit unseren Kindern beschäftigen, mit dem Erscheinungsbild des hyperkinetischen Syndroms so wenig vertraut sind, daß sie schon beinahe reflexartig die Sonderschule - heute Förderschule für Lernbehinderte genannt - als Ausweg aus dem Dilemma empfehlen und nicht die dringend notwendige Vorstellung bei einem auf dieses Krankheitsbild spezialisierten Arzt. Das Vorurteil, das Verhalten des Zappelphilipps beruhe auf einer falschen Erziehung und sei deshalb allein mit pädagogischen Mitteln behebbar, verbaut den Weg zu einer wirksamen medizinischen Behandlung, die oft eine erstaunlich rasche und durchgreifende Veränderung des Verhaltens bewirkt.
Ganz besonders sollte der Lehrer bei einem hyperkinetischen Kind darauf achten, ob es zusätzlich unter einer Teilleistungsstörung in Form einer Lese- und Rechtschreibstörung oder einer Rechenstörung leidet, und es gegebenenfalls umgehend einer entsprechenden Behandlung zuführen.