Ein Manual zur Behandlung von Kindern (5-10 Jahre) mit ADHS
Das genannte Handbuch ist für Fachkräfte und Therapeuten jeglicher pädagogischer und psychologischer Couleur verfasst. Besonders geeignet scheint es meiner Meinung nach, für Musik- und Ergotherapien.
Laut Aussage der Autorinnen, sollte ein (und das wird die zwar ambitionierten und engagierten, jedoch eher unmusikalischen Menschen freuen) „...Interesse für Musik sowie ein grundlegendes Rhythmusgefühl“ vorhanden sein. Andererseits seien spezielle musikalische Vorkenntnisse keine Voraussetzung, um erfolgreich mit diesem Werk arbeiten zu können. Bei Bedarf und Interesse können erklärende und vertiefende Fortbildungen zum Handling gebucht werden.
Das Manual ist so aufgebaut, dass es verschiedene Arbeitsmodelle erlaubt. So können zum einen einzelne Übungen herausgegriffen und je nach aktuell erforderlicher (Gruppen-/Unterrichts-) Situation verwandt werden. Zum anderen, und das ist der große Vorteil und auch die Grundidee, kann und sollte es durch den sukzessiven Aufbau präzise befolgt werden.
Die Lektüre ist lesefreundlich strukturiert und in einen theoretischen und praktischen Teil gegliedert.
Im ersten Teil werden die Hintergründe zur ADHS erläutert. So werden u.a. Zahlen, Fakten, der Ablauf der Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten näher beleuchtet. Aufgrund der aktuellen, geradezu kriminellen Unwissenheit auf Seiten der Therapeuten et all., ist das eine gelungene Hinleitung. Ferner gibt es Informationen zum Forschungsstand und den Wirkfaktoren von Musiktherapien.
Darauffolgend werden die Inhalte, die nötigen Rahmenbedingungen, der Aufbau und die Intention des Kurses zur Konzentrationssteigerung en détail, als quasi step-by-step-Anleitung dargestellt.
Graduell werden dem interessierten Leser der gesamte Inhalt, bzw. die genauen Ziele, die einzelnen Elemente des Kurses, die nötigen Vorbereitungen und der geplante Ablauf einer jeden Sitzung gelungen erklärt.
Trainiert und gestärkt werden sollen die fokussierte, geteilte und Daueraufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis, die Impulskontrolle und Handlungsplanung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten Betroffener), die Sozialkompetenz und Eigenverantwortung, sowie die Emotionsregulation und der Selbstwert. Die Hyperaktivität der Kinder, d.h. der Drang nach Bewegung, wird bei diesem Training „nicht unterdrückt, sondern … in gezielte Aktivität umgesetzt.“
Im Anschluss folgen konkrete Beschreibungen der bereits erwähnten einzelnen Elemente des Trainings. Auf diese stützt sich das gesamte Konzept. Dazu zählen zuallererst natürlich die Musik und „Pepe der Paradiesvogel“ (eine Stoffpuppe, inkl. Bastelanleitung). Er agiert als Hauptakteur und dient sowohl als Identifikationsfigur, aber auch als Verstärkersystem.
Dazu muss man wissen, dass Pepe noch nicht fliegen kann. Das lernen Paradiesvögel nämlich nur, wenn ihnen genügend bunte Federn gewachsen sind. Diese entwickeln sich jedoch erst, wenn die zukünftigen Träger dieser es schaffen, „sich zu konzentrieren, sich nicht ablenken zu lassen sowie ihre Handlungen und Gedanken zu strukturieren.“
Der geneigte Leser mag Pepes Problem bereits erahnen...
Aber natürlich hat Pepe auch positive Eigenschaften. So ist er neugierig, offen und kreativ. Diese Wesensmerkmale sind - als Betonung der Ressourcen der Kinder - wiederholt Thema.
Neben der Stoffpuppe die der gesamten Gruppe `gehört´, wird jedem Kind zu Beginn des Trainings ein Paradiesvogel in Papierform ausgehändigt. Dieser hat jedoch nur weiße Federn. Die Partizipanten können in den fortan stattfindenden Sitzungen für den `Gruppen-Pepe´ bunte Federn sammeln und ihrem eigenen eine ausmalen, jedoch nur bei „positiven Verhaltensweisen“.
Und nun wird es kompliziert – für mich zumindest. (Um dieses Training abhalten zu können, müsste ich wahrscheinlich erst einmal als TN partizipieren, um meine Konzentration und Strukturfähigkeit zu konditionieren, aber das nur am Rande.)
Puh, ok, ich versuche mich an einer knappen Version des Kerns von's Janze.
Also:
- Pepe als Stofffigur für die Gruppe und auf Papier/Kind
- Ziel: bunte Federn sammeln/ausmalen
- pos. Verhaltensweisen an den Tag legen (an Gruppenregeln halten, keine rote Karte bekommen): Teamfeder
- Hausaufgabe machen UND mitbringen: Trainingsfeder
- punktemäßig dem anderen Team bei Konzentrationsaufgaben überlegen sein (ges. Gruppe = 2 konkurrierende Teams): eine Gewinnfeder ausmalen dürfen
- sagt ein Kind eine Sitzung selbstständig ab (wg. Krankheit z.B.): Mutigkeitsfeder
- Erfolg: Papier-Pepe wird bunt/Stoff-Pepe bekommt Federn (hoffentlich)
Bei der Handlungsplanung und der Impulskontrolle hilft je Pepes Ampel (inkl. Bastelanleitung), deren verschiedene Signale folgendes bedeuten:
rot = stopp, abwarten
gelb = zuerst überlegen
grün = beginnen
blau = kontrollieren
lila = Lobe dich.
Dazu gibt es in dem Manual anwendungsbezogene Beschreibungen von Situationen, in denen ausführlich erklärt wird, wann und wie die Ampel während des Unterrichts eingesetzt werden kann/sollte. Zusätzlich gibt es vier zentrale Regeln (zuhören, nett zueinander sein, am Platz bleiben und Mühe geben), die gemeinsam mit den Kindern besprochen werden. Diese sind sowohl bildlich, als auch schriftlich auf laminierten Karten (inkl. Kopiervorlage) festgehalten und somit für alle verständlich, selbst wenn die Kinder nicht oder kaum lesen können.
On top of that gibt es auch noch die ungeliebte gelbe (Verwarnung) und die verhasste rote Karte (wg. „prosozialem Fehlverhalten“ darf dann keine Teamfeder ausgemalt werden) als Einsatzmittel.
Alles wird parallel verwandt, während die Teilnehmer die ihnen gestellten Aufgaben erledigen - wie z.B. sich einen Takt ausdenken, den die anderen sich merken und dann nachspielen müssen. Dabei sollen alle besprochenen Regeln eingehalten und angewandt werden. Hierbei können sie dann Punkte sammeln. Diese sind - wir erinnern uns - wichtig, um Federn für den Stoff- und die Papier-Pepe/s zu bekommen. Verspielt sich ein Kind jedoch, so bekommt das andere Team diesen heiß begehrten Punkt. Damit es aber nicht langweilig wird, besteht ferner die Möglichkeit sich Sonderpunkte zu erarbeiten.
Alle Stunden haben den gleichen, teilweise ritualisierten Aufbau (z.B. die musikalische Befindlichkeitsrunde) und beinhalten Themen, die den Kindern aus ihrer Lebensumwelt bekannt sind. Das gilt für die Regeln und die Sitzungsinhalte.
Diese hier wiederzugeben, würde jedoch den AKZENTE-Rahmen (und mein Hirn) sprengen. Eins sei gesagt bzw. geschrieben: Alles folgt einem äußerst logischen, akribischen (!), geradezu makellos durchdachten Ablauf mit jeweiliger Bewertung der Schüler und dem Transfer zu deren Realität.
Es wird angegeben welches Material insgesamt benötigt wird, wie die Räumlichkeiten beschaffen sein müssen, wie die erste Sitzung ablaufen sollte, wie alle insgesamt ablaufen werden (Tabelle), es gibt Zeitangaben, sogar fertig ausformulierte Sätze und ganze Textpassagen, die (bei Bedarf) nur abgelesen werden müssen. Es ist, lax formuliert, absolut idiotensicher vorbereitet und man/ich hat/habe das Gefühl, dass an wirklich ALLES gedacht wurde.
Ich muss neidlos anerkennen, dass ich selbst so ein bis ins kleinste Detail ausgeklügelte Konzept nicht ansatzweise entwickeln könnte. Es scheint perfekt. Scheint... Denn während ich das ganze Manual wieder und wieder lese, läuft bei mir innerlich zeitgleich ein Film ab, der reality check quasi und mir schießen Trilliarden von Szenarien und Fragen ins Oberstübchen. Dazu später mehr.
Im zweiten Teil erfolgt die genannte Übersicht aller Meetings, die einen groben Überblick gibt. So kann man schnell nachschauen, wann welche Musikstücke, Geschichten, Instrumente, Spiele, usw. behandelt werden, was wann und wie trainiert wird und welches Ziel dabei im Vordergrund steht.
Daran schließen die einzelnen Unterrichtsstunden, 18 an der Zahl, mit ihrem genauen Ablauf an. Jede Sitzung ist kleinschrittig und sorgfältig ausgearbeitet. Diese elaborierte Form bietet jedem Trainer Sicherheit.
Als gewinnbringend finde ich die Idee, dass die Eltern mit `ins Boot geholt´ und in die Therapie eingebunden werden.
So findet auch die erste Sitzung gemeinsam mit den Kindern und deren Eltern statt. In dieser wird beiden Seiten das folgende Programm erläutert, Pepe wird präsentiert, die Regeln und Ziele werden erklärt, Fragen können gestellt werden und der gesamte Ablauf der Sitzungen wird beleuchtet.
Die weiteren Treffen bestreiten die Teilnehmer ohne ihre Eltern. Der Aufbau bzw. die Struktur ist stets gleich, sodass eine gewisse Routine eintreten kann. Sie beinhalten aber jedes Mal andere Aufgaben, bzw. Geschichten und Spiele. Am Ende gibt es jeweils eine Trainingsaufgabe für zu Hause. Die Termine finden 1/Woche statt.
Passend dazu wurde ein Elterntraining konzipiert, welches in drei Sitzungen parallel zum `Kindertraining´ abläuft. Dieses wird im Benutzerhandbuch ebenfalls erst als Übersicht dargestellt. Im Folgenden werden diese Gesprächskreise, deren Inhalte, sowie die Handreichungen, welche sie für die Arbeit zu Hause erhalten, gleichermaßen ausführlich und gründlich erläutert. So lernen die Eltern welche Ziele geplant sind und was sie selbst tun können, damit das Konzept Erfolg hat und zu Hause mehr Ruhe einkehrt.
Themen sind u. a. die Psychoedukation (Was sind Aufmerksamkeitsprobleme?), positives und negatives Verhalten der Kinder zu beobachten, dann im nächsten Schritt angemessen und konsequent (!) darauf zu reagieren, die Stärken der Sprösslinge zu benennen, die verschiedenen Aspekte von Kommunikation ((Aus-)Wirkung), sowie individuelle Verstärkerpläne und wirkungsvolle Aufforderungen zu entwickeln.
Am Ende eines jeden Meetings wird die Option einer „Hausaufgabe“ angeboten. Diese soll den Eltern als eine Art Kontrollmechanismus dienen und ihnen bei der Umsetzung des Gelernten helfen und kann als Grundlage für die kommende Sitzung dienen – falls es Fragen, Wünsche, Anregungen dazu gibt. Alles findet auf freiwilliger Basis und ca. alle 3-4 Wochen statt.
Den Eltern wird die Möglichkeit gegeben, im Bedarfsfall nach Beendigung des kompletten Trainings, ein persönliches Abschlussgespräch zu führen.
Als letzter Punkt erfolgt eine Evaluation. Diese „erfolgte im Rahmen der Promotion der Autorinnen in Form einer großangelegten Studie im Raum Hamburg“. Dazu gab es Stichproben an verschiedenen Grundschulen und lerntherapeutischen Einrichtungen. „Die untersuchten Kinder litten unter Aufmerksamkeitsproblemen, … allerdings bestanden kaum klinisch untermauerte ADHS-Diagnosen“.
Im Vergleich zur Kontrollgruppe, stellten sich laut Aussagen der Autorinnen „über die Zeit signifikante Verbesserungen der Aufmerksamkeitsleistung sowie der Lebensqualität“ ein. Außerdem reduzierten sich die ADHS-Symptome ebenfalls signifikant, unabhängig „von Alter, Geschlecht, Intelligenz und Migrationshintergrund“ …, was auf dem spielerischen, weitestgehend sprachfreien und intuitiv verständlichen Vorgehen des Trainings basiert“.
Erwähnenswert und erstaunlich finde ich den Fakt, dass die Effektivität nicht „wesentlich höher“ ausfiel, wenn Eltern und Lehrer an den jeweiligen Gesprächen und Treffen teilnahmen.
Das Fazit der Evaluation fällt positiv aus, da es „demnach eine wirkungsvolle sowie beliebte Maßnahme zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen“ darstellt.
Das obligatorische Literaturverzeichnis, sowie der Anhang mit den Geschichten und allen Vorlagen (verschiedene Bastelanleitungen, Regelkarten, Vordrucke, Urkunden, Material für das Elterntraining und eine Informationsbroschüre für Lehrer - alles in Kleinformat), bilden dann den Abschluss.
Wer es bis hierhin geschafft hat: Glückwunsch!
Meiner Meinung nach ist es, theoretisch zumindest, alles in allem ein wirklich gelungenes Manual, dem man die vorausgehenden, gründlichen Gedanken, Überlegungen und die Mühe bei der Er- und Ausarbeitung ansieht. Das Konzept und die Idee dahinter sind top.
Bisweilen beschlich mich bei der Lektüre jedoch das subjektive Gefühl, dass die eigentliche und existenzielle Problematik von betroffenen Kindern (und Erwachsenen) nicht erkannt bzw. verstanden wird, da einzelne Passagen etwas `abgeschrieben´ und theoretisch `abgearbeitet´ klingen. Aber das ist mein persönliches Empfinden.
Meine oben erwähnten Trilliarden mir ins Enzephalon schießenden Szenarien und Fragen, will ich Ihnen, werte Leser, nicht vorenthalten. Beginnen wir mit … kleiner Scherz am Rande, ich versuche sie auf 100 zu reduzieren.
Ich kann, werde und will die Evaluation nicht in Frage stellen.
Aufgrund von verlässlich Gehörtem (Eltern betr. Kinder, Pädagogen, Therapeuten) und selbst Erlebtem, könnte ich mir vorstellen, dass einiges aus dem beschriebenen Werk jedoch die Realität verfehlt und/oder schwer umsetzbar ist.
Das klingt im Zusammenhang mit der zuvor gemachten Aussage beileibe widersprüchlich. Indes wohnen ja bekanntermaßen viele Paradoxien der „ADHS-Welt“ inne (wenn das die Menschheit endlich einmal begreifen würde).
Der in der Evaluation genannte Begriff „Aufmerksamkeitsstörung“ ist dehnbar, d.h. es können diverse Ursachen zugrunde liegen und der genannte Fakt, dass kaum konkrete ADHS-Diagnosen vorlagen, bekräftigt dieses.
Die Sitzungen werden wohl zumeist nachmittags stattfinden. D.h. „echte“ ADHSler haben oft schon ein Maximum an Kraft aufwenden müssen, um den Tag durchzustehen; evtl. genommene Medikamente werden sich in vielen Fällen aufgebraucht haben. Besteht eine Gruppe ausnahmslos aus 1a-ADHSlern, könnte ich mir allein die zu Beginn stattfindenden Gesprächsrunden recht lebhaft und ausufernd vorstellen – was Mitteilungsbedürfnis, Lautstärke und generell das Miteinander angehen.
Auch weiß ich nicht, inwieweit man 10-Jährige heutzutage noch mit der Aussicht Federn ausmalen zu dürfen, hinterm Ofen hervorlocken kann, bzw. einem Stoffvogel solche anstecken zu dürfen - bietet Pepe dafür Anreiz genug?
In besonders herausfordernden Gruppen, müssten die Trainer nonstop mit Ampel, gelber und roter Karte hantieren, Diskussionen aushalten, auf der anderen Seite aber vorwärts kommen. Wie werden sich die Kinder verhalten, die kaum/keine Federn erhalten/ausmalen dürfen? Baut das nicht noch mehr Druck, neg. Gefühl auf? Was ist, wenn die Eltern nicht mitarbeiten, bzw. selber betroffen sind (nicht unwahrscheinlich!), wie laufen diese Treffen ab, bzw. wie konsequent sind sie dann in der Umsetzung des Gehörten?
Ganz dramatisch wäre, wenn am Ende nicht genügend Federn zusammengekommen sind und Pepe aufgrund der „Schuld der Kinder" nie fliegen lernt... aber das ist wohl ein eher unrealistisches worst case scenario. - Wahrscheinlich bin ich schlichtweg zu negativ geprägt.
Fazit:
Die Grundidee ist gut, der Aufbau spitze und die Umsetzung kann, soll und wird individuell gestaltet werden.
Y. L.
neue AKZENTE 105/2016