Ein Kinderbuch von 6 bis 99 Jahren
Es war kein Zufall, dass der „Zappelhannes“ mich ansprach. Vor zehn Jahren arbeitete ich in der Tagesklinik einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da ich die Stelle zum Oktober antrat, waren die Patienten bereits Wochen davor mit Beginn des Schuljahres aufgenommen worden. Die Klinikleitung kannte mich durch ein Praktikum sowie das Vorstellungsgespräch. Die Tagesklinikgruppe reservierte daher zwei kleine Patienten und deren Familien für mich, deren „Fälle“ ich als Psychologe übernehmen sollte.
Einer von ihnen hieß Johannes, wie ich. Ich mochte ihn vom ersten Augenblick an, auch wenn er es einem gelegentlich schwer machte. Er war schlau (ist es heute noch) und ungebärdig. Wenn wir in der Gruppe gemeinsam beim Essen saßen, donnerte die Leiterin manchmal mit der Hand auf den Tisch. „Johannes!“ brüllte sie den kleinen Chaoten an, wenn er mit dem Essen hantierte wie im Sandkasten und ununterbrochen redete. Zwei Johannes zuckten zusammen und sahen schuldbewusst zur Stirnseite des Tisches. Für einen Augenblick war es wieder wie Zuhause, 20 Jahre vor Studium und Promotion.
Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen. (Jesaja 43,1)
Bis heute haben Namen für mich eine eigentümliche Bedeutung: Sie rufen eine bestimmte Vorstellung auf, wie ein Mensch ist. Als wüssten alle Mütter und Väter gleich nach der Geburt ihres Kindes, was für einen Charakter es später einmal haben würde. Und Johannes war für mich der Name für ein kleines, wildes, schlaues menschenhaftes Tier, das von netten Leuten eingefangen und ein bisschen gezähmt wurde. Aber nur ein bisschen. Jetzt saß es an der Leine von Eltern und Lehrern, Tischsitte und Straßenverkehrsordnung. Es liebte seine Eltern und Lehrer. Sogar die Schule liebte es, weil es da endlos viel zu entdecken und zu lernen gab. Doch diese ganzen Regeln, das beständige Nacheinander, das Zuhören und Warten, das Ruhigbleiben bei Freude und Wut liebte es nicht. Weil Johannes das nicht verstand. Wie konnte man für sich behalten, was einen schier zum Platzen brachte: Ein Lachen, eine traurige Nachricht, ein unsäglicher Schmerz?! Wie konnte man auf der einen Straßenseite warten und den Verkehr beobachten, wenn auf der anderen Seite ein Freund stand, ein Baum zum Klettern oder eine Pfütze zum Reinhüpfen war?!
Als Kind hatte ich mich immer gefragt, wann ich meinen Erwachsenen-Namen bekommen würde. Kleine wilde Kinder wie ich hießen Johannes. Große vernünftige Männer wie mein Vater hießen Bruno. Irgendwann würde auch ich vernünftig werden müssen und einen Erwachsenen-Namen bekommen. Oder umgekehrt: Der Erwachsenen-Name würde mir helfen, endlich vernünftig zu sein. Kein böser Johannes mehr, bei dessen Namensnennung die Erwachsenen der nahen und fernen Umgebung erschraken wie halb Schweden, wenn man von Michel aus Lönneberga sprach. Sondern beispielsweise ein braver Rudolf wie mein älterer Bruder, dessen Name schon in der Kindheit Programm war und der ihn deshalb ein Leben lang behalten konnte.
Was soll ich sagen? Ich habe keinen anderen Namen bekommen. Dennoch ist das Erschrecken meiner Mitmenschen inzwischen weniger geworden. Doch als dem längst erwachsenen Johannes der „Zappelhannes“ von Regina Rusch in die Hände fiel, war alles wieder da. Das war nicht einfach ein Kinderbuch, in dem eine gute Autorin eine mal lustige, mal traurige Geschichte für Kinder geschrieben hatte. Der „Zappelhannes“ war ein reales Kind, es stand vor meinen Augen, die Wohnung der Familie war mir bis ins Detail vertraut!
Nun soll niemand glauben, die Geschichte vom „Zappelhannes“ sei meine Geschichte. Nein, ich hatte eine tolle Klassenlehrerin in der Grundschule, der ich sehr viel verdanke. Und ich hatte durchaus Freunde, was in Teilen dem Umstand geschuldet war, dass unser Haus einen Pool hatte. Ein bisschen mochten mich Kinder und Erwachsene auch, weil ich nicht ganz dumm bin und meist mit guten Noten, guter Laune und lustigen Ideen daherkam. Aber ich kannte jeden Gedanken, den die Autorin Hannes denken ließ, jedes beschriebene Gefühl, den ganzen Trotz und die endlos tiefe Enttäuschung und Verzweiflung. Ich wusste, wie es ist, wenn das Leben bis in die Fußzehen und Fingerspitzen reichte, wenn der Körper förmlich nach Bewegung schrie und sich nicht rühren durfte. Ich war mir sicher, dass dieser „Zappelhannes“ von jemandem erzählt worden war, der eine Ahnung von diesem wilden kleinen großen Kinderleben hatte. Und dass diese Geschichte besser war als alles, was jemals in Fachbüchern über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern geschrieben worden war.
Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. (Antoine de Saint Exupéry: Der kleine Prinz)
Ich gab die Arbeit in der Klinik auf, weil ich keine wilden Tiere mehr an die Leine legen wollte. Natürlich wusste ich, dass man sie zähmen musste, wenn man sie als Haustiere behalten wollte. Ich entwickelte ein Verhaltenstraining für Eltern von hyperaktiven Kindern, denn dieser „Zappelhannes“ war aktiver als seine Altersgenossen und hatte daher unausweichlich Probleme in der Gemeinschaft mit anderen. Mein Wunsch war, dass die Eltern es wie der kleine Prinz machten – mit mir als Fuchs, der ihnen erklärte, wie man die wilden Kinder zähmte. Ich empfahl ihnen die Lektüre des „Zappelhannes“ und verschenkte das Buch, da es mir wie die ideenreiche Anleitung für eine bessere Erziehung erschien. Bis es eines Tages ausverkauft war.
Die Anfrage bei einer Freundin, die als Kinderbuchlektorin arbeitete, war ernüchternd: Der „Zappelhannes“ sollte offenbar nicht wieder aufgelegt werden. Ich konnte und wollte mich nicht über meine Arbeit hinaus als Verleger engagieren, also wartete ich. Und dann geschah das kleine Wunder, das keines ist. Zwischenzeitlich war ich im Vorstand des ADHS Deutschland e.V. gelandet, und das, obwohl ich mir über lange Jahre geschworen hatte, das eigene Leben nicht zum Gegenstand meines therapeutischen Bemühens zu machen. Der Verband fragte bei der Autorin nach, ob denn mit einer Neuauflage des „Zappelhannes“ zu rechnen sei – und ob sie andernfalls bereit wäre, das Buch im verbandseigenen Verlag erscheinen zu lassen. Frau Rusch sagte zu.
Während die Vorarbeiten zur neuen Ausgabe des „Zappelhannes“ im Gang waren, telefonierte ich mit Frau Rusch. Man mag mir bisweilen vorwerfen, ich hätte vor wenig Respekt, doch vor der Schöpferin dieses Hannes, der mir so sehr verwandt schien, hatte ich Respekt. Es schien mir, als wäre sie wie ein Fremder, der Geheimnisse von mir wüsste. Nicht, dass dies private Informationen wären; mehr eine unheimliche Kenntnis von Denkmustern, Verhaltensweisen, Gefühlen und Sehnsüchten. Als ob sie von meiner Achilles-Verse wusste oder der Stelle zwischen meinen Schultern, an der das Lindenblatt haftete, während der kleine Held wie Siegfried mit dem Drachen kämpfte. Doch die Autorin freute sich nur, dass ihr „Zappelhannes“, der ihr Geheimnis ist, in dem Johannes, der ich geblieben bin, eine Saite zum Klingen brachte.
Eine Zeitlang sprachen wir über das Buch, insbesondere über die Passagen gegen Ende, in der Hannes zu Frau Dr. Flamme geht. In einem Kinderbuch ist das ein schwerer Gang, für Hannes wie für die Autorin. Plötzlich schien die Geschichte einen anderen Sinn zu bekommen. Fünf Kapitel lang war Hannes der Held, der sich in Freude, Angst, Wut und Trotz gegen die Umwelt behauptete. Nun entpuppte sich sein heldenmütiger Kampf gegen die unrechten Anfeindungen des Schicksals als die Auflehnung eines Kranken. Hannes wollte ja nicht der einsame Krieger sein, sondern ein geliebtes Kind. Er konnte nur nicht anders. Wäre es da für die Autorin nicht einfacher gewesen, den kleinen Jungen wie Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga später zum Gemeinderatspräsidenten werden zu lassen – allem Kinderelend zum Trotz?
Daß dieser Junge Gemeinderatspräsident wurde, als er groß war, gehört zu den Wundern dieser Welt. (Astrid Lindgren: Michel aus Lönneberga)
Frau Rusch ging einen anderen Weg. Astrid Lindgren wusste, dass Michels Welt untergegangen ist; daraus hat sie nie einen Hehl gemacht. Die Wohnverhältnisse der Svenssons auf Katthult, Schulpflicht oder gleichaltrige Freunde sind für Lindgren letztlich Nebensache. In den Geschichten über Michel werden harte soziale Verhältnisse, bigotte Menschen und zeitweise wenig vorbildhafte Eltern dargestellt, doch das ist für die Autorin eine Realität, die sie selbst erlebt hat. Astrid Lindgren hat ihr Leben trotz allem unvermeidlichen Leid stets als ein Geschenk des Schicksals verstanden. Michel beweist, dass aus einem kleinen wilden Jungen ein rechtschaffener Mann werden kann, auch wenn das die Erwachsenen dem Kind nicht zutrauen. Nicht anders, wie aus einer Sekretärin die vielleicht bedeutendste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts werden konnte.
Der „Zappelhannes“ hingegen lebt in der Welt von heute. Seine Eltern haben kein Bauernhaus, sondern eine Stadtwohnung mit Nachbarn, die das Treiben des Kindes missgünstig beobachten. Hannes Vater arbeitet außer Haus und bringt Stress und Ärger einer separierten Arbeitswelt in die Familie; wie kann Hannes verstehen, warum der Vater, den er nur stundenweise sieht, stets so genervt ist und seine Ruhe braucht? Der Mittelpunkt der Lebenswelt des Jungen ist die Schule; in ihr muss Hannes bestehen, Leistungen erbringen und Freunde finden. Seine Mutter weiß das, und sie spürt den Druck der Lehrerin. Ihr Ehemann, Frau Popinski, die genervte Passantin in der U-Bahn – sie alle bevölkern die Welt des „Zappelhannes“ mit einer Idee vom Kindsein, der Hannes nicht gerecht wird, und einer Idee von Erziehung, die Hannes und seiner Mutter nichts nutzt, sondern einfach nur weh tut. Ist man jemals auf den Gedanken gekommen, den Svenssons einen Jugendamtsmitarbeiter auf den Hof zu schicken, weil bekannt war, dass der Vater den Jungen zu schlagen versuchte und regelmäßig einsperrte?! Nein! Doch im „Zappelhannes“ würde man nur kurz aufhorchen, wenn die Lehrerin der Mutter vorschlüge, bei Erziehungsberatung und Jugendamt um Hilfe für das absehbar scheiternde Kind nachzusuchen. Überraschen würde uns das allerdings nicht.
Gerade deshalb ist der „Zappelhannes“ so groß wie die Geschichten um „Michel aus Lönnerberga“. Hannes Mutter zeigt eine Fülle an klugen Verhaltensweisen: Die Art, wie sie mit Hannes spricht und ihm doch auch Zeit lässt; wie sie ihn im richtigen Moment festhält und im richtigen Moment gehen lässt; wie sie ihm mit der Hand über den Rücken fährt und seine Rippen zählt; wie sie sich ehrlich über alles an ihrem Jungen freut, was Anlass zur Freude gibt, das andere aber zu überwinden versucht. Der „Zappelhannes“ ist ein wunderbares Buch, um zu zeigen, wie gute Erziehung funktioniert. Es ist die Mutter, die das Einzigartige und Kostbare an Hannes zum Vorschein bringt, weil sie ihn trotz aller Sorgen und Nöte unendlich liebt. Sie macht Hannes frei, die liebenswerte Anarchie von Mizzilehmann konstruktiv zu nutzen. Sie macht den Vater, der Hannes gleichermaßen liebt, offen für die Lebensfreude des Sohnes. Und sie macht sich selbst frei einzusehen, dass sie, die Familie, dass Hannes Hilfe braucht.
Eine Kuh, die nicht ist wie die anderen, kann auch eine Kuh sein, die gern telefoniert. (Jean-Louis Fournier: Wo fahren wir hin, Papa?)
Darum sind wir als ADHS Deutschland e.V. so stolz darauf, den „Zappelhannes“ neu auflegen zu dürfen. Frau Rusch hat ein Buch geschrieben, das einen Teil des Wesens von ADHS offenbart, ohne über Krankheit und Störung zu schreiben. Sie hat von einem Kind erzählt, das Probleme in dieser einen Welt hat, in der auch unsere Kinder leben, ohne Eltern, Lehrer oder die Gesellschaft als ganzes für das Leid dieses Kindes verantwortlich zu machen. Sie hat ein Bekenntnis zur Wirklichkeit abgelegt, ohne Selbsttäuschung, pauschaler Sozialkritik und pädagogischer Ideologie. Auf diese Weise hat sie ein Buch geschaffen, dessen Lektüre nicht nur Kindern gefällt, sondern Erwachsene mit etwas zu berühren vermag, das für Familie und Freundschaft, Schule und Arbeit, Erziehung und Therapie ein gemeinsames Fundament sein sollte: Sympathie mit dem lebendigen Leben.
Im Sinne des ADHS Deutschland e.V. wünsche ich mir, dass der „Zappelhannes“ noch viele Jahre die Liebe von kleinen und großen Menschen zu wilden und zahmen Kindern, aber auch den Geschichten über diese Kinder zu wecken und zu befeuern vermag. Für den Hannes in mir hoffe ich, dass er sich ein Leben lang durch Bücher wie dieses daran erinnert, dass er den Kindernamen Johannes nicht als Urteil trägt, sondern als Mahnung, dass noch aus den schlimmsten Kindern was Vernünftiges werden kann. Immerhin, das weiß ich heute, trugen selbst Päpste diesen Namen …
München, im Februar 2009,
Dr. Johannes Streif