von Dr. Klaus Skrodzki, Forchheim
Mögliche Therapieformen bei ADHS
Überblick:
- Psychoedukative Maßnahmen (Beratung der Familie und Betreuer)
- Erziehungskonzept und Lenkung des Freizeitbereichs (sportlich, musisch, handwerklich)
- Verschiedene Formen der Kombination von Bewegungs-, Beschäftigungs-, und Verhaltenstherapie
- Altersabhängige begleitende Maßnahmen
- Behandlung spezieller Teilleistungsstörungen
- Psychologische Maßnahmen (z.B. Verhaltenstherapie)
- Medikamentöse Therapie (primär: Stimulantien)
Nahezu immer ist Multimodale Therapie erforderlich, aber nicht alle Patienten brauchen alles:
Beispielhafte Therapieformen im Einzelnen:
Erziehung
Mehr als alle anderen Kinder brauchen Kinder mit ADHS ein ganz striktes, klar erkennbares Erziehungskonzept. Regeln und Maßnahmen müssen so klar strukturiert sein, dass das Kind „genau weiß, wo es lang geht“. Die Erziehung muss ihm rechts und links ein Geländer an die Hand geben und ihm damit klar den Weg weisen. Der Tagesablauf soll möglichst gleichmäßig geregelt sein, Machtkämpfe und Diskussionen sind zu vermeiden. Das, was das Kind nicht kann, nämlich: Anhalten, Hinhören und Hinsehen vor dem eigentlichen Handeln, muss der Erzieher umso mehr. Eine kurze Denkpause vor dem Handleln soll ihm helfen, die Nerven nicht zu verlieren. Hat er aber einmal eine Entscheidung getroffen, soll er diese auch durchsetzen: nämlich Handeln statt reden. Die Eltern müssen mit verbaler Kritik, Ermahnung und Schimpfen sparen, da die Kinder nur zunehmend „elterntaub“ werden. Die Eltern müssen trotz aller Unaufmerksamkeit mit ihrem schwierigen Kind sprechen, ihr Sprechen aber durch klar erkennbare Handlungen untermauern. Und schließlich müssen die Eltern lernen, die richtige Einstellung zu diesem Problem zu finden, denn das Problem wird mit Sicherheit über lange Zeit, wenn nicht immer, weiterbestehen.
Programme zur Verbesserung der psychomotorischen Koordination, der sensomotorischen Integration und zum Abbau der verschiedenen Wahrnehmungsstörungen (Psychomotorik, Ergotherapie, Heilpädagogik).
Hier eignet sich besonders die Psychomotorik, bei der die Kinder Freude an und mit der Bewegung haben, spielerisch die Steuerung ihres Körpers und den Umgang mit Raum, anderen Kindern und der Gruppe erlernen (»Gas und Bremse gebrauchen lernen« siehe Prof. Jonny Kiphard).
In der Ergotherapie wird besonders die Körperwahrnehmung in allen ihren verschiedenen Bereichen gefördert. Manchmal kann das – insbesondere im Vorschulbereich - sehr sinnvoll sein. Insgesamt fehlen aber Untersuchungen über die Effektivität dieser Therapien und deren Übertrag in den Alltag.
Bei Teilleistungsstörungen müssen entsprechende Therapieprogramme eingesetzt werden.
Solche Maßnahmen können Besserung erzielen, wenn die Fähigkeiten der Kinder gefördert und nicht die Störungen und Leistungsschwächen betont werden. Ein Problem ist hierbei, dass oft nur wenige Therapeuten mit Erfahrung zur Verfügung stehen, so dass deren nützliche Hilfe (als Therapie einer grundlegenden Störung) nicht oft genug und nicht überall angewandt werden kann und dass viel zu selten Gruppentherapien durchgeführt werden. Nur im Kontext mit Gleichaltrigen lernen Kinder ihr Sozialverhalten adäquat zu steuern.
Psychologische und pädagogische Beratung
Familientherapie, nicht um den Eltern Ratschläge zu erteilen, sondern ihnen zu helfen mit ihrem eigenen Problem im Umgang mit dem schwierigen Kind fertig zu werden und die Familie an diesem Problem nicht zerbrechen zu lassen. Hier sind besonders die Erziehungs- und Familienberatungsstellen gefordert.
Elterntraining wird in vielen Formen angeboten und ist derzeit die am meisten angesagte Therapiemaßnahme. Der Nachweis der Wirksamkeit steht noch aus.
Beschäftigungs- und Spieltherapie kann hilfreich sein wobei sich nach meiner Erfahrung die non-direktive Spieltherapie für ADHS Patienten nicht eignet.
Verhaltenstherapie ist bisher die einzige psychologische Therapie, für die es positive Evaluationen gibt.
Diät
Unter einer bestimmten Auslassdiät (allergenarme Ernährung), die ganz individuell erprobt werden muss, kommt es bei einem Teil der hyperkinetischen Kinder zu einer Reduzierung ihrer Störungen. Diese Beobachtung wurde von vielen Eltern und praktisch tätigen Ärzten gemacht, in großen wissenschaftlichen Studien konnte der Effekt bisher jedoch nicht sicher bewiesen werden. Es gibt Ansätze für eine „allergenarmen“ Kost (Prof. Egger). Die Schwierigkeiten der Diät sind die
* große individuelle Streuung der Substanzen, die stören sollen,
* die starke Ausrichtung der gesamten Familie auf diese Kost für ein Kind und die Mühe bei Einkauf und Herstellung
* Erfahrung, dass manche Kinder ihr Verhalten mit „Diätfehlern“ zu entschuldigen versuchen und sich dann nicht mehr für ihr Handeln verantwortlich fühlen.
Ab etwa dem 10. Lebensjahr ist Diät praktisch kaum mehr durchführbar, da die Kinder sich selbst andere Nahrungsmittel leicht besorgen können. Dabei werden sie durch strenge Diätvorschriften noch mehr zu Außenseitern (Auf der Party wird nicht die Torte, sondern das mitgebrachte Spezialbrot verzehrt). Und der 14 jährige klaut notfalls, um auch bei Mc Donalds essen zu können. Es gibt Ausnahmen, wenn z. B. eine Jugendliche ganz bewusst eine Diätrichtung, die ihr zu bekommen scheint, einschlägt und durchhält.
Medikamentöse Therapie
Hier handelt es sich nicht um Medikamente aus dem Bereich der Tranquilizer und Sedativa, die hyperaktiven Kinder dämpfen sollen (Pillen für den Störenfried) und bei vielen dieser Kinder sogar eine gegenteilige Wirkung haben, sondern um Substanzen, die ähnlich aufgebaut sind wie unsere körpereigenen Neurotransmitter und offensichtlich zum Teil die Grundstörung (gestörte Reizleitung und Verarbeitung) verringern oder sogar aufheben. Die heutige wichtigste Gruppe sind die sog. Stimulantien
Stimulantien können im nichtmedizinischen Gebrauch als Suchtmittel dienen und zur Abhängigkeit führen. Für Kinder mit einer ADHS sieht die Wirkung völlig anders aus: ½ Stunde nach Einnahme werden diese Kinder ruhiger, aufmerksamer, ausgeglichener und die Aggressivität sinkt. Die Wirkung hält ca. 4 Stunden an. Heute gibt es außerdem zahlreiche retardierte Zubereitungen, die eine unterschiedlich lange Wirkdauer und unterschiedliche Verteilung der Wirkdosis über den Tagesverlauf haben. Abhängigkeit oder Toleranzentwicklung gibt es nicht. Kurzfristige Nebenwirkungen sind Appetitlosigkeit, gelegentliche Kopf- und Bauchschmerzen und bei falscher zeitlicher Dosierung Schlafstörungen. Ganz häufig aber werden schon vorher bestehende Schlafstörungen unter der Therapie geringer. Langzeitnebenwirkungen sind bei bisher fast 60-jähriger Beobachtung nicht erkennbar. Größe, Gewicht, Blutdruck und Puls müssen aber regelmäßig überwacht werden. Über 80% sprechen auf das Medikament an. Die Verhaltensänderung unter Medikation ist für die Eltern, Erzieher, Lehrer und die Kinder selbst oft verblüffend: Die Betroffenen sind plötzlich in der Lage, ihre Umgebung richtig wahrzunehmen, Informationen regelrecht zu verarbeiten und damit Leistungen zu erbringen und Verhalten zu zeigen, das ihrer eigenen Persönlichkeit und ihrem Vermögen entspricht. Schrift, Stil und Rechtschreibung verbessern sich oft schlagartig. Es kommt zur Entspannung der familiären und schulischen Situation, zur Vermeidung weiterer Aggressionen und Frustrationen, die sonst als sekundäre Folgen das spätere Leben dieser Kinder in schwerster Weise beeinträchtigen. Zur angepassten kleinen Erwachsenen - wie manchmal behauptet wird - werden sie nicht, sondern sie behalten sehr wohl ihre persönlichen Eigenarten.
Die Dosierung des Medikamentes muss individuell bestimmt werden und das ist nur vernünftig durchführbar bei differenzierter und genauer Rückmeldung der Betreffenden, d. h. der Eltern, der Lehrer und Erzieher. Dabei ist eine langsame Dosissteigerung (am Besten in Wochenabstand) und eine für den Einzelnen passende Höchstdosis bei niedrigster Nebenwirkungsrate anzustreben. Die Dosierung ist stets nach Wirkung und nicht nach Körpergewicht einzustellen. Inzwischen stehen auch andere Medikamentengruppen (Nichtstimulanzien) zur Behandlung zur Verfügung.
Wir wehren uns heute - z. T. sicher mit Recht - gegen medikamentöse Therapien und wollen „natürliche“ Methoden und Hilfen, aber nur ein völlig Verantwortungsloser und Unwissender käme auf die Idee, einem Diabetiker sein Insulin vorzuenthalten, weil er gegen Medikamente ist. Für viele Kinder mit einer ADHS stellt aber die medikamentöse Therapie oft die wirkungsvollste Möglichkeit dar, mit ihnen überhaupt wieder ins Gespräch zu kommen, eine Bereitschaft bei ihnen zu wecken, eine Familientherapie, ein Lernprogramm oder eine Verhaltenstherapie überhaupt mitzumachen. Da die Kinder ihre Störbarkeit kennen und darum vor jeder Leistung Angst haben, ist es wichtig, ihnen erst einmal Hilfe zum Erfolg zu geben.
Mütter und Erzieher haben unter den Stimulantien weniger Notwendigkeit, ins Spiel oder in die Arbeit einzugreifen und die Selbständigkeit wird dadurch gefördert. Die Frage „pills or skills (Fertigkeiten)“ ist falsch gestellt. Es geht nicht darum, eine Ideologie für Medikamente und gegen andere Maßnahmen zu entwickeln, sondern diesen Kindern bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Wir arbeiten nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlende! (Mohr 1965)
Um die Medikamentenwirkung zu stabilisieren und eine längerfristige Besserung zu erreichen, sind Hilfen durch Eltern, Erzieher und insbesondere Lehrer von größter Bedeutung. Hier eine kleine Auswahl, die aber jeder mit Erfahrung und persönlichem Engagement ausarbeiten und verbessern kann:
Strenge, aber liebevolle Führung, d. h. Konsequenz in allen wichtigen Dingen, die mit Bestimmtheit und Nachdruck durchgeführt werden müssen, aber auch Nachsicht bei Unwichtigem und Nebensächlichem. Wenn das Kind spürt, dass man ihm grundsätzlich wohlgesinnt ist, seine Schwierigkeiten kennt und ihm bei der Umgehung dieser Schwierigkeiten helfen will, übersteht es viele unerfreuliche Situationen unbeschadet.
Ständige Zuwendung und Lob: Aus Experimenten weiß man, dass alle Kinder sich auf Lob verbessern und ohne Lob verschlechtern, aber nur die Kinder mit einer ADHS verschlechtern sich ganz besonders bei unregelmäßigem Lob, denn sie können sich auf den Wechsel nicht einstellen.
Ausschaltung unnötiger Reize: Wenn das Kind möglichst weit vorne beim Lehrer und neben einem ruhigen Kind platziert ist und sich auf seiner Pultfläche nur das befindet, was es zur gegenwärtigen Arbeit benötigt, kommt es besser zurecht. Wenn es aber besser arbeiten kann, wenn es einen Bleistift zerkaut, ist das zu tolerieren.
Direkter körperlicher und Blickkontakt: Der Lehrer, der das Kind während der Arbeit öfter direkt ansieht oder im Vorbeigehen stehen bleibt und die Hand auf seine Schulter legt, wird die Arbeit unterstützen und helfen bessere Leistungen zu erbringen.
Kurze Arbeitszeiten mit Strukturierung der Aufgaben in Einzelschritten: Wegen der geistigen Ermüdung bei Kompensation von Wahrnehmungsstörungen kann das Kind bei kurzen Arbeiten besser zeigen, was es wirklich kann. Außerdem kann man ihm z. B. erlauben, auf einem Rechenblatt zuerst alle Plus- und dann nachher alle Minusrechnungen zu machen, anstatt sie gemischt bewältigen zu müssen.
Versagensangst abbauen, indem man dem Kind möglichst oft behilflich ist Versagen zu umgehen.
Legal die Erlaubnis zur Bewegung, z. B. Tafel putzen, etwas holen oder Mitschülern die Hefte zu verteilen. Churchill durfte pro Stunde einmal um die Schule laufen.
Ertragen der Langsamkeit, z. B. Aufgaben in und nach der Schule reduzieren oder Textaufgaben (in der Mathematik) mehrfach deutlich vorzulesen, damit Kinder, die mit dem Lesen Schwierigkeiten haben, dann die Aufgabe begreifen können.
Schließlich Geduld, unendlich viel Geduld. Kein Kind will Misserfolg, Strafe, Ablehnung. Kein Kind will schlecht sein. Sagen Sie bitte nicht: „Er, sie, es kann ja, wenn es will!“ Die Technik - sich adäquat und angepasst zu verhalten - wird von diesen Kindern erst viel später und sehr mühevoll erworben. Diese Geduld kann man vielleicht nur dann aufbringen, wenn man weiß, wie sehr die Kinder selber unter ihrer Störung leiden.
Ausblick
Trotz aller Therapiemöglichkeiten bleiben Schwächen in vielen einzelnen Gebieten „Teilleistungsstörungen“. Diese Schwächen schließen aber eine überdurchschnittliche Leistung in anderen Gebieten nicht aus. Oft sind diese Menschen später eine Bereicherung für die Welt, da sie den sogenannten Normalen etwas voraushaben: Mit kindlicher Begeisterungsfähigkeit, erfrischendem Neugierverhalten, originellen Problemlösungen bringen sie Leben in einen grauen Alltag. Mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen und anders strukturierter Sensibilität sind sie oft so phantasiereich und farbig, dass Gleichaltrige neben ihnen alt erscheinen. Eine allen Pädagogen wohlbekannte Persönlichkeit wird in einer Biographie in einer Art und Weise geschildert, dass man sicher sein kann, dass es sich um ein hyperkinetisches Kind gehandelt haben muss. Ich zitiere: „Er hatte schon früher den Ruf eines etwas sonderbaren Menschen. Meist schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Immer wieder erwähnen Zeitgenossen seine sprichwörtliche Zerstreutheit ... Was sein Äußeres betraf, so lachte man in Freundeskreisen darüber und schalt ihn seiner vernachlässigten Kleidung und seiner ungepflegten, struppigen Haare wegen. Ebenso auffällig schien sein Gang: Entweder stolperte er oder er kam so zögernd daher, als habe er etwas verloren. Rock, Halstuch und Strümpfe waren stets irgendwie zerknüllt oder verschoben. Verneigungen glückten ihm nie; wenn er eine gefüllte Teetasse ein Stück weit zu tragen hatte, endete das meist mit einem Unglück ... Seine Lehrer rühmten zwar seine Intelligenz, entrüsteten sich aber über seine Art zu lernen ... ja sogar die Orthographie und Interpunktion beherrschte der sonst sprachgewandte Schüler nur sehr mangelhaft. Seine Studien brach er dann auch vorzeitig ab“. Es handelt sich um Heinrich Pestalozzi.
Vielleicht sollten wir in Zukunft, wenn wir über ein solches Kind nachdenken, nicht von einem hyperaktiven Kind oder einem Kind mit ADHS sprechen, sondern sich ein Kind mit einem „Pestalozzisyndrom“ vorstellen, von dem später vielleicht Großes zu erwarten ist.
Wenn Eltern, Erzieher, Lehrer, Ärzte und Psychologen zusammenarbeiten und alle heute möglichen Therapien sinnvoll anwenden, können wir helfen, das Leben dieser Kinder nicht im ständigen Misserfolg, Unglück und Verzweiflung verlaufen zu lassen, und Kriminalität und Asozialität vorprogrammieren, sondern ihnen durch liebevolle und hilfreiche Integration den Weg zu einem besseren und erfüllten Leben zu bahnen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich 1996 in dem Fachbuch des BV-Ah »Unser Kind ist hyperaktiv! Was nun?«, das mittlerweile vergriffen ist.
- Überarbeitet und aktualisiert 2014 -
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