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Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), früher "Hyperkinetisches Syndrom" (1)

von Dr. Klaus Skrodzki, Forchheim

ADHS als Modekrankheit?

ADHS scheint in der Öffentlichkeit aber auch in Pädagogik, Psychologie und sogar bei den Krankenkassen zur umstrittensten Störung des Kindes- und Jugendalters zu werden. Überall wird davon geredet, heftige Richtungkämpfe ausgefochten und die Medien tun das Ihre dazu, um durch Mischung von geschickt recherchierten Sendungen und Sensationsshows ohne sachlichen Hintergrund noch mehr Verwirrung zu stiften. Sekten machen sich breit und bieten ihr Heil an, um problembeladenen Eltern auch noch Geld aus der Tasche zu ziehen. Handelt es um eine ähnliche Erkrankung wie bei der sogenannten »Hysterie«, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zur vermeintlich häufigsten Krankheit, ja fast zur Volksseuche der Frauen wurde. Heute existiert sie nicht mehr und wenn wir davon lesen, können wir nur den Kopf schütteln darüber, wieviel Zeit und Arbeit in eine »eingebildete Krankheit« gesteckt wurde. Sollte es sich bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung um eine ähnliche Zeiterscheinung, um eine Modekrankheit der Kinder handeln?

Versuchen wir Beispiele, Hypothesen, Beschreibungen und Fakten zusammenzutragen, um ein einigermaßen realistisches Gesamtbild zu erstellen, immer in dem Bewusstsein, dass wir nur ein Abbild unseres derzeitigen Wissens aufstellen können.

Zum praktischen Erscheinungsbild:

Bevor morgens ihre 2. Schulstunde beginnt, beklagen sich einige Schüler der Klasse über Thomas, er würde ihnen die Mütze herunterreißen!

8.50 Uhr: Thomas dreht sich verkehrt herum und schreit laut.

8.51 Uhr: Er rutscht auf seinem und dem freien Nachbarstuhl hin und her, steht auf und schiebt die Stühle wie Kinderwagen vor sich her.

8.52 Uhr: Er dehnt einen Gummi zwischen beide Hände und spielt damit.

8.53 Uhr: Er ruft grundlos den Namen eines Mädchens.

8.55 Uhr: Er legt sich auf den Tisch

8.56 Uhr: Er spielt wieder mit dem Gummiring und zielt auf Kinder. Nach einer Mahnung, den Gummi herzugeben, schiebt er ihn in den Ranzen.

8.58 Uhr: Thomas steht auf und schlägt um sich. Er zieht Grimassen dazu.

8.59 Uhr: Er durchwühlt grundlos seinen Ranzen.

9.10 Uhr: Er steht auf und schlägt Charlotte.

9.15 Uhr: Thomas fällt vom Stuhl.

9.22 Uhr: Thomas schlägt Anna ohne ersichtlichen Grund, rennt im Klassenzimmer herum und wischt Tische ab.

9.25 Uhr: Er schlägt mit Fäusten auf Markus, rauft mit ihm.

9.27 Uhr: Thomas schiebt seinen Tisch den vor ihm sitzenden Kindern in den Rücken, dann schiebt er seine Knie zwischen Stuhl und Tischkante hoch.

9.30 Uhr: Er legt die Beine auf den Stuhlrücken, dreht der Tafel den Rücken zu.

9.32 Uhr: Thomas steht auf und schreit plötzlich: »Superman«.

9.34 Uhr: Thomas zieht Grimassen und legt sich auf seinen Tisch.

9.35 Uhr: Ende der Stunde und man hört förmlich das Aufatmen der Lehrerin.

Kinder mit einer ADHS fallen überall aus dem Rahmen, nicht nur in der Schule, sondern meist auch im häuslichen Milieu und im sozialen Umfeld. Meist störend bereiten sie Eltern, Erziehern, Umwelt und nicht zuletzt sich selbst erhebliche Schwierigkeiten.

Um das Ausmaß der Störungen quantifizieren zu können wurden verschiedene Fragebögen eingeführt.

Wenn also folgende Dinge auffallen, sollte man an das Krankheitsbild denken und Abklärung anstreben:

  • Extreme motorische Unruhe (Hyperaktivität)
  • Unaufmerksamkeit, ständiges Träumen, vermehrte Ablenkbarkeit
  • Übermäßige Impulsivität (Wutausbrüche, vermehrte Reizbarkeit)
  • Übermäßiges Störverhalten
  • Auffallende Langsamkeit bei der Aufgabenlösung
  • Frustrationsintoleranz
  • Auffallende Diskrepanz zwischen der offenkundigen Intelligenz und der Leistung

Nicht alle genannten Verhaltensauffälligkeiten müssen nebeneinander bestehen und ebenso wenig müssen alle Auffälligkeiten gleich stark ausgeprägt sein. Die große Variation in Qualität und Quantität des Erscheinungsbildes macht es schwierig, diese Verhaltensstörung zu erkennen und die einzelnen Problemfelder zuzuordnen

Die folgenden Beispiele sollen solche Kinder in verschiedenen Umgebungen vorstellen:

1. Ein typisches Sprechstundenerlebnis

Die Mutter kommt mit dem achtjährigen Alexander in mein Sprechzimmer, um ein Problem zu besprechen. Der kleinere, zweijährige Bruder ist auch mit dabei. Während die Mutter das Problem schildert, können sich beide Kinder frei im Raum bewegen. Es sind Spielzeug und Bilderbücher reichlich vorhanden. Alexander geht zur Liege, einmal um die Liege herum, klappt die Tür des Instrumentenschrankes auf, nimmt den Reflexhammer heraus, klappt die Tür wieder zu, klopft mehrfach erst auf die Liege, dann auf das Holz des Schrankes. Die Mutter und ich sprechen ihn an, zeigen ihm Spielzeug und Bücher. Alexander nimmt ein Buch in die Hand, legt es wieder hin, geht zur Liege, nimmt den Hammer und klopft an das Metallgestänge der Liege, fragt mich, wozu das da sei, legt den Hammer hin, läuft zur Waage, steigt drauf, zieht den Messstab für die Größe zu sich herab, klappt ihn zehnmal auf und zu. Er wippt auf der Waage, steigt auf meine Bitte, das sein zu lassen, von der Waage herunter. Er läuft zur Babywaage, drückt drauf, freut sich, dass sich der Zeiger dreht, versucht es weitere Male, bis die Waage anfängt zu schaukeln und ich ihn bitte aufzuhören. Er greift nach der Messmulde für Säuglinge, schiebt die Messlatte hin und her, fragt wozu das Papier ist, zerknüllt es, indem er den Größenschieber mit Gewalt darüber schiebt, wird von der Mutter ermahnt und zu ihr geholt. Er läuft zum Bücherregal zieht mehrere Bücher heraus, lässt sie auf den Boden fallen. Läuft zur Liege, nimmt den Reflexhammer, klopft mehrfach auf den Schrank, legt den Hammer hin, ehe wir etwas sagen können; nimmt das Stethoskop, steckt es in die Ohren, läuft zur Mutter, will ihr die Bluse aufknöpfen und sie abhören. Er läuft wieder zur Waage, beginnt den Messstab zu biegen, bis ich ihn bitte, das sein zu lassen. Er beginnt das Ausgleichsgewicht der Waage abzuschrauben, läuft zum Bruder, der auf dem Boden mit der Eisenbahn spielt, nimmt ihm die Eisenbahn weg, hakt die Wagen aus, hakt sie wieder ein, verdreht sie, bis ein Haken abbricht und stellt sie wieder dem Bruder hin. Während der ganzen Zeit versucht die Mutter ihn mehrmals zu ermahnen und lässt ihn nur auf meine Worte hin weitermachen. Nach 10 Minuten - solange hat das Ganze gedauert - brechen wir das Gespräch ab und vereinbaren einen Termin ohne Alexander, um uns in Ruhe über eben dieses Problem unterhalten zu können.

Der zweijährige Bruder hat während der ganzen Zeit mit einer Eisenbahn und Bauklötzen auf dem Boden gespielt!

2. Bericht einer Mutter über den 12-jährigen Florian!

Er kommt grantig und übellaunig aus der Schule und sagt: "Ich habe keinen Hunger, ich will nichts essen!" Befragt: "Wir haben soviel Hausaufgaben auf. Blöde Schule!" Nach dem Essen (wenig): "Ich will noch keine Hausaufgaben machen!" "Aber du hast dich doch für 3.00 Uhr verabredet?" "Ja, ich will aber noch keine Hausaufgaben machen! Blöde Schule!" Stampft mit dem Fuß auf, packt seinen Ranzen, wirft ihn an einer anderen Stelle hin: "Blödes Deutsch!" Gutes Zureden hilft schließlich, ihn zum Hinsetzen und Auspacken zu bewegen. Das Heft wird auf den Tisch geknallt, das Buch fällt gleich runter, das Mäppchen wird aufgerissen - dabei gemurrt und gemault. Unter Tränen: "Soviel haben wir auf, immer soviel. Der blöde Lehrer!" Tritt gegen das Tischbein. Die Mutter schimpft: "Hör endlich auf und nimm dich zusammen, das kleine Stück haben wir doch gleich. Guck mal, so wenig." "Wenig? Päh, soviel! Gemeinheit!" Führt sich auf wie Rumpelstilzchen. Die Mutter schreit. Tränen. Florian: "Du bist immer so gemein zu mir, ganz gemein." Die Mutter traurig: "Ich geh jetzt weg!" - "Ach so hab ich´s nicht gemeint. Nicht weggehen, bitte nicht! Ich mach´s ja!" Setzt sich hin und plötzlich geht es voran. Die Mutter wieder ruhig, lobt ihn nach 2 Wörtern "Siehst du, es geht ja prima!" Und in 10 Minuten sind 2/3 der Hausaufgaben fertig. "Jetzt brauch ich aber eine Pause!" "Ach komm, wir machen erst zu Ende." "Nein! Jetzt brauch ich die Pause, nur 5 Minuten!" Und das ganze Kampfspiel beginnt wie oben.

Handelt es sich um eine Modeerscheinung?

Schon 1808 beschrieb Dr. Haslam, Leibarzt Kaiser Napoleon I. ein »moralisch krankes Kind, Sklave seiner Leidenschaften, Schrecken der Schule, Qual der Familie, Plage der Umgebung.«

1844 entstand in Frankfurt das Buch "Der Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann. Dieser Frankfurter Arzt beschrieb aus eigener Erfahrung typische Erscheinungsbilder hyperkinetische Kinder: den Zappelphilipp, den fliegenden Robert, Hans guck in die Luft und den bösen Friedrich.

1881 beschrieb Scherpf "das impulsive Irresein als häufigste kindliche Seelenstörung"

1902 erforschte der englische Kinderarzt Still Kinder mit "Defects in Moral Control"

1917 schrieb Professor Czerny über "Schwererziehbare Kinder" und

1937 Dr. Charles Bradley über die hilfreiche Wirkung der Stimulantien auf verhaltensauffällige Kinder. In den Jahren nach der ersten Beschreibung Bradleys befassten sich anfangs Kinderärzte und Kinderpsychiater, später Kinderpsychologen mit diesem Krankheitsbild. Es fand erst in den USA, später über Neuseeland, Holland, England und Skandinavien Beachtung. In Deutschland erschienen die ersten Berichte Mitte der 60er Jahre. Dann allerdings zahlreiche Publikationen; allein im deutschsprachigem Raum 1965 bis 1985 über 250 Arbeiten, die sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen von medizinischer, psychologischer und pädagogischer Seite.

1985  veröffentlichte der Kinderarzt Dr. Walter Eichlseder in München das erste deutschsprachige Buch zu ADHS: „Unkonzentriert? Hilfen für Hyperaktive Kinder und Eltern“.

1996  nannte R. Barkley ADHS eine: „Entwicklungsstörung der Selbstkontrolle“.

1997/99 entwickelten wir im Auftrag des Kultusministeriums München einen Film und eine Handreichung für Lehrer: „Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder im  Unterricht“.

1998  veröffentlichten Droll, Krause/Krause und Trott die erste Leitlinie für Erwachsene: „ADHD im Erwachsenenalter“

2002  wurde das „Eckpunktepapier des BMGS“ erarbeitet und

2005  die Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zu ADHS veröffentlicht.

Inzwischen ist die Zahl der Veröffentlichungen, aus allen Teilen der Welt, so groß, dass eine Literaturrecherche (nur bei namhaften wissenschaftlichen Blättern) jeden Monat ca. 200-300 Arbeiten erfasst.

Begriffsabgrenzungen:

Unter ganz verschiedenen Namen wurden bisher  von verschiedenen Autoren Kinder und Jugendliche mit sehr ähnlichen Problemen beschrieben:

MCD: Minimale cerebrale Dysfunktion war lange Zeit eine typische Bezeichnung

MBD: Minimal Brain Dysfunction/Damage

POS: Psycho - organisches Syndrom in der Schweiz üblich

HKS: Hyperkinetisches Syndrom in ICD 9

ADDS: Attention Defizit Disorder Syndrom mit / ohne Hyperaktivität und Sozialstörungen war in den USA lange Zeit üblich

Gebraucht wurden auch von verschiedenen Fach- und Berufsgruppen: Hirnfunktionsstörung, Partielle Hirnreifungsstörung, Hirnorganisches Psychosyndrom, Teilleistungsstörung, Minimale cerebrale Bewegungsstörung,Hyperaktive Kinder, Ungeschickte Kinder, Aufmerksamkeitsgestörte Kinder, Kinder mit besonderem Förderbedarf, Schwerkraftverunsicherte Kinder

Alle Namen umfassen nur Teilaspekte der Störung und sind nicht identisch, aber sie überschneiden sich in großen Bereichen. Heute gilt ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) in Deutschland und ADHD (Attention-Defizit-Hyperactivity-Disorder) im englischsprachigen Raum als die korrekte Bezeichnung (DSM IV/V)

Es handelt sich mit Sicherheit nicht um eine Modeerscheinung, sondern um die Erkenntnis eines Problems, das erst spät in unser Bewusstsein gedrungen ist. Denn in früherer Zeit, als das Überleben eines Kindes im Vordergrund stand, waren derartige Probleme zweitrangig. Entweder fielen die Schwierigkeiten, beispielsweise in einer großen Bauernfamilie, nicht sehr ins Gewicht, oder aber die Kinder galten als schwarze Schafe der Familie, ohne dass man die Ursachen ihres Versagens hinterfragt hätte. Erst in unserer Zeit der bewussten Elternschaft, der gezielten Förderung der wenigen Kinder, ist das Störungsbewusstsein größer geworden. Denn wenn man sich als Eltern oder Lehrer in hohem Maß um die optimale Entwicklung eines Kindes bemüht, ist es verständlicherweise frustrierend, wenn das Kind den Erwartungen nicht gerecht wird.

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