Fallbuch für Betroffene für zu Hause und bei der Arbeit - mit Beiträgen von: Peter Altherr, Roy Murphy, Erika Tittmann, Hans van de Velde, Kathrin Weßling, Michael Wey
Es gibt bereits gute, empfehlenswerte Ratgeber zum Thema ADHS bei Erwachsenen, wie man z.B. auch den Buchempfehlungen von ADHS Deutschland entnehmen kann. Das hier besprochene neue Werk ist eine ideale Ergänzung, weil es in allgemein verständlicher Sprache einen roten Faden von den anonymisierten Fallgeschichten aus den Patientenakten erfahrener, einschlägig spezialisierter Ärzte und Psychologen von der Kindheit übers Erwachsenenalter bis ins Berufsleben zieht, in denen sich viele ADHS-Betroffene mit ihren jeweils eigenen Werdegängen wiedererkennen werden. Die Autoren erläutern dabei auch, wie die Betroffenen ihre jeweiligen ADS- und ADHS-typischen Probleme mit deren Unterstützung überwinden konnten. Im Nachfolgenden werden die Bezeichnungen ADS und ADHS unter dem Oberbegriff ADHS zusammengefasst.
In seiner Einführung beschreibt Dr. Peter Altherr die Entwicklung der Diagnose ADHS von einer ursprünglich als reine „Kindheits-Problematik“ angesehenen Störung, die sich bis zum Erwachsenenalter angeblich auswächst, bis hin zu der Erkenntnis, dass diese Störung häufig auch bei Erwachsenen weiterhin besteht. Dabei wandeln sich die Grundsymptome und werden durch sich in der Entwicklungsgeschichte daraus ergebenden weiteren Störungsbildern häufig überlagert, wodurch die zugrunde liegende ADHS bei Erwachsenen nicht selten „maskiert“ wird. Dies führt dazu, das viele Betroffene auf ihren Odysseen durch Arzt- und Psychologen-Praxen zuerst Fehldiagnosen sammeln, bevor sie – wenn sie Glück haben - endlich an einen Spezialisten geraten, der die eigentliche Ursache erkennt und die korrekte Diagnose ADHS stellt, als Grundvoraussetzung dafür, dass ihnen endlich wirksam geholfen werden kann. Der Autor fährt dann mit der Benennung von bekannten Persönlichkeiten fort, bei denen ADHS diagnostiziert wurde oder aus deren Lebensgeschichte der begründete Verdacht abgeleitet werden kann, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach ADHS haben bzw. hatten.
Es folgt ein Beitrag aus einem Blog der Hamburger Social-Media- Spezialistin und Journalistin Kathrin Weßling mit dem Titel „Willkommen in einem Leben mit ADHS“. Darin beschreibt sie als Selbstbetroffene, wie es bei ihr zu der Diagnose kam und wie sie damit lebt und umgeht. Bereits in diesem lebhaft erzählten Beitrag über ihre ADHS-Lebensgeschichte und Erfahrungen – auch was häufige Vorurteile angeht, mit denen sie konfrontiert wurde -, wird sich der eine oder die andere Betroffene ganz oder teilweise wiedererkennen.
Das nächste Kapitel mit dem Titel „Hermann Hesse – Kindheit und Jugend eines berühmten Schriftstellers“ enthält eine hochinteressante Analyse von Dr. Altherr auf der Grundlage der Tagebuch-Eintragungen der Mutter von Hermann Hesse. Aus diesen Eintragungen schließt der Autor, dass die Diagnose ADHS aus heutiger Sicht als eindeutig gesichert gelten kann. Auch in der Lebensgeschichte von Hermann Hesse werden sich viele Betroffene sicherlich wiedererkennen.
Es folgt das Kapitel von Dr. Michael Wey mit dem Titel „Therapeutische Optionen bei ADS und ADHS“. Darin gibt der Autor eine Übersicht und Beschreibung der bei ADHS gängigen Therapiemethoden, wie Soziotherapie, Psychotherapie, bewegungsorientierte Therapie und Pharmakotherapie. Aufgrund der immer noch häufig anzutreffenden Vorurteile gegenüber den zur Behandlung von ADHS einsetzbaren Medikamenten bekommt die Pharmakotherapie eine ausführliche Erläuterung durch einen langjährig erfahrenen, sachkundigen Arzt, zumal die vorgenannten übrigen Therapieverfahren bei vielen Betroffenen überhaupt erst mit hinreichender Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden können, wenn diese durch die richtige Einstellung mit dem richtigen Medikament „therapiefähig“ gemacht werden. Das Kapitel schließt mit einer ausführlichen tabellarischen Übersicht über die in Deutschland für die Behandlung von ADHS und möglichen Komorbiditäten zugelassenen Medikamente.
Es folgen je ein lesenswertes Kapitel mit Fallbeispielen aus der ärztlichen Praxis von Dr. Wey und ein Kapitel von Dipl.-Psychologin Erika Tittmann mit Fallbeispielen aus der psychotherapeutischen Praxis. Siehe hierzu meine Bemerkungen im ersten Absatz.
Der Diplompsychologe Dr. Roy Murphy schließt sich an mit dem Kapitel „ADHS und Beruf – Wie können Menschen mit ADHS zufriedener im Beruf und widerstandsfähiger gegenüber Herausforderungen werden?“. Anhand von Fallbeispielen geht Dr. Murphy diesen Fragen nach, liefert nützliches Faktenwissen über ADHS, erläutert die Stärken und Schwächen von erwachsenen Menschen mit einer ADHS-Konstitution, bietet Orientierung für die Suche nach einer passenden beruflichen Nische, geht auf die Frage ein, warum manche Menschen mit ADHS beruflich sehr zufrieden und erfolgreich sind und erläutert die spezifischen Hilfsangebote für Menschen mit ADHS in Deutschland. Außerdem erklärt der Autor, auf welche Weise eine ADHS-Konstitution einen Risikofaktor für einen Burn-out Prozess darstellt. Schlussendlich führt er Strategien zum effektiven Selbstmanagement für Menschen mit ADHS auf und erklärt, auf welche künftigen Veränderungen der Arbeitswelt sich Betroffene einstellen müssen.
Im letzten Kapitel behandelt der niederländische Jurist und ADHS-Coach Hans van de Velde das Thema „Coaching am Arbeitsplatz“. Der Autor hat mit „Equisto Coaching“ sein eigenes Coaching-Unternehmen gegründet und bietet professionelles Coaching sowohl für Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber an. Er beschreibt die Grundlagen für ein effektives Coaching und stellt seine „Equisto-Methode“ vor. Als Voraussetzung für den idealen Coach nennt er solides Grundlagenwissen in der Erkennung/Diagnostik von „Menschen mit einem speziellen Gehirn“, einschließlich Coaching-Methoden bei Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Bipolarität, erworbenem Hirnschaden, usw. Außerdem sollte sich der Coach gut auskennen mit Mediation und Karrierecoaching, Arbeitsrecht und integrierten Ansätzen für komplexe Problemkonstellationen. Er erläutert das Coaching-Dreieck: Coach, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und geht systematisch auf den Coaching-Prozess ein. Auch dieser Autor benützt zur Veranschaulichung Fallbeispiele. Er beschreibt den Umgang mit den Stärken und Schwächen seiner Klienten in der Arbeitssituation und nennt nützliche Strategien, wie z.B. das „OHIO-Prinzip“ (OHIO = „Only Handle It Once, d.h. dass der Arbeitnehmer einen Vorgang nur einmal in die Hand nehmen soll anstatt mehrmals). Unter anderem behandelt der Autor auch die wichtige Frage, ob und unter welchen Umständen sich der ADHS-Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber outen oder lieber schweigen soll. Er stellt die Interessen und Ziele des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers einander gegenüber und führt die Möglichkeiten und Vorgehensweisen für einen Ausgleich auf.
Mein Fazit: Ein gelungenes und hilfreiches Buch für Erwachsene, die die Hürden, die sich Ihnen aufgrund ihrer ADHS im Leben und am Arbeitsplatz in den Weg stellen, überwinden wollen.
Michael Townson