von Isabell Streif und Dr. Johannes Streif
Die folgenden Hinweise zum Umgang mit provokanten Kindern und Jugendlichen beziehen sich auf in hohem Maße provokativ-ablehnend gegenüber Eltern und/oder Geschwistern eingestellte Kinder und Jugendliche mit ADHS bzw. isolierter Sozialverhaltensstörung. Sie setzen an einem Punkt an, zu dem die Eltern bereits viel auf pädagogischem, therapeutischem und medizinischem Feld unternommen haben, um das Problemverhalten innerhalb der Familie in den Griff zu bekommen. In diesem Sinne stellen die Hinweise eine Ultima Ratio im Bemühen um eine letzte Korrektur des Problemverhaltens innerhalb der Familie dar und sollten keinesfalls leichtfertig zu einem früheren, mit einer Mischung aus Zuwendung und Grenzsetzung besser zu adressierenden Stadium der familiären Probleme zum Einsatz kommen.
1) Umgang mit den Kindern / Jugendlichen selbst
Wichtig im Umgang mit extrem provokanten Kinder und Jugendlichen ist eine klare, für die Kinder absehbare Herangehensweise im Fall seit längerem bestehender Provokationen, insbesondere wenn sie von Jugendlichen ausgehen. Die Eltern sollten über die Probleme und das inakzeptable Verhalten offen mit dem Kind/Jugendlichen sprechen. Fühlen die Eltern sich unsicher oder glauben sie, dass ihnen die nötige Autorität fehlt, entschieden gegenüber dem Kind bzw. Jugendlichen aufzutreten, sollten sie zum Gespräch eine im Vorfeld gut informierte, dem Kind bzw. Jugendlichen vertraute Person hinzuziehen. In einem solchen Gespräch sollten die Eltern klar darlegen, dass es keinen Zwang gibt, im Haushalt der Familie zu leben, so dass es dem Kind/Jugendlichen offen steht, sich in Absprache mit dem Jugendamt beispielsweise eine Heimunterbringung anzuschauen. Hierdurch zeigen die Eltern, dass sie nicht um jeden Preis an der Gemeinschaft mit dem Kind in der Familie festhalten wollen und werden.
Um die Ernsthaftigkeit der Situation gegenüber dem Kind oder Jugendlichen zu verdeutlichen, sollte von den Eltern in Erwägung gezogen werden, mit dem Nachwuchs direkt zum Jugendamt zu gehen und dort mit dem/der zuständigen Sachbearbeiter/in sprechen. Hierbei sollte von den Eltern nachgerade das Thema der Fremdunterbringung angesprochen werden. Oft hat es bereits heilsame Wirkung, wenn den Kindern bzw. Jugendlichen klar wird, dass die Eltern nicht erpressbar sind.
Provokantes Verhalten kann neben einer Aggressivität gegenüber Eltern und/oder Geschwistern auch in einer Verbreitung von unwahren Aussagen über die eigenen Eltern liegen. Besteht die Gefahr, dass Kinder oder Jugendliche sich abwertend oder verleumderische über ein Elternteil äußern (z.B. Freunden, Nachbarn, Lehrern oder anderen Personen entgegen der Wahrheit berichten, dass sie zuhause eingesperrt, geschlagen, missbraucht oder in einer dem Alter nicht angemessenen Weise zu Arbeiten herangezogen werden), so sollten Eltern dieses Verhalten gegenüber dem eigenen Kind/Jugendlichen offen thematisieren und signalisieren, dass sie vor solchen unbegründeten Anschuldigungen keine Angst haben, da sich die Wahrheit erweisen werde. Zugleich müssen die Eltern deutlich machen, in welchem Maße diesbezügliche Aussagen einen Vertrauensbruch darstellen, der die familiäre Gemeinschaft mit dem Kind/Jugendlichen grundsätzlich infrage stellt.
2) Hilfe von Institutionen wie Erziehungsberatungsstelle, Jugendamt oder Gericht
Ansprechpartner für externe Hilfen sind Erziehungsberatungsstellen, das Jugendamt, aber auch sowohl den Eltern als auch den Kindern vertraute dritte Personen, mit welchen offen über die Anschuldigungen und die möglichen Konsequenzen gesprochen werden sollte. Denkbare dritte Personen können, sofern sie dazu bereit sind, Großeltern, Geschwister der Eltern oder auch die Eltern von Freunden des Kindes/Jugendlichen sein, die über die Problematik Bescheid wissen und bereit sind, auch gegenüber dem Kind Position zu beziehen.
Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen und eine anwachsende Hilflosigkeit zu vermeiden, erscheint es sinnvoll, frühzeitig eine Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen und dort offen über die Optionen im Rahmen der gegebenen Familiensituation zu sprechen. Wichtig ist, dass die Eltern die Familiensituation in all ihren Schwierigkeiten möglichst realitätsnah schildern, da nur eine solche gleichermaßen angemessene wie schonungslose Darstellung Dritten das Ausmaß der Problematik zu verdeutlichen vermag. Eine umfassende Darstellung der bereits innerhalb und außerhalb der Familie ergriffenen Maßnahmen macht es Fachpersonen zudem leichter, abzuschätzen, welche weiteren Schritte vor dem geschilderten Hintergrund noch Erfolg versprechend sind. Keinesfalls sollten Maßnahmen jenseits der Familie wie beispielsweise alternative Formen der Unterbringung ausgeklammert werden. Ziel muss jedoch stets eine angemessene Kommunikation zwischen Eltern und Kind/Jugendlichem sein.
Ein resoluter Umgang mit Provokationen und ein frühzeitiges Aufsuchen von Beratungsstellen sowie Einschalten von Behörden, auch des Jugendamts, mit einer offenen Kommunikation sind daher am ehesten geeignet, die Situation nachhaltig zu verbessern. Insbesondere bei massiven Drohungen des Kindes/Jugendlichen gegen Eltern und/oder Geschwister, aber beispielsweise auch gegenüber Lehrern sollte nach gründlicher Abwägung der Ernsthaftigkeit nicht davor zurückgeschreckt werden, einen Notarzt, die Kinder- und Jugendpsychiatrie und/oder die Polizei einzuschalten. Dies gilt umso mehr, hat ein Kind/Jugendlicher bereits früher oder in der Situation selbst sich und/oder andere verletzt. Auch massive Zerstörungen, denen die Eltern nicht selbst Einheit gebieten können, sollten zur Einschaltung der Polizei führen.
3) Maßnahmen und deren Folge
Auf Antrag können den Eltern durch das Jugendamt unterstützende Maßnahmen gewährt werden. Diese können von einer ambulanten Familienhilfe bis zu einer mit Zustimmung der Eltern erfolgten Fremdunterbringung reichen. Hierbei behalten die Eltern ihr Sorgerecht uneingeschränkt und können jederzeit auf Änderungen der Maßnahmen drängen.
Zögern Eltern hingegen, kann es über die Auswirkungen auf das Eltern-Kind-Verhältnis hinaus zu einer kritischen Eskalation der Familiensituation kommen, die das Jugendamt zum Eingreifen veranlasst, wenn beispielsweise Nachbarn, Lehrer oder Erzieher massives Problemverhalten melden. In diesem Fall kann sich eine vorangegangene Untätigkeit der Eltern negativ auf die Einschätzung der Erziehungsfähigkeit auswirken. Wird das Familiengericht eingeschaltet, kann eine gerichtliche Entscheidung zu einem (Teil-)Entzug der elterlichen Sorge führen. Mag hiervon bisweilen auch eine Entlastung für die Eltern im Hinblick auf ihre Hilflosigkeit und Erpressbarkeit ausgehen, stellt ein gerichtliches Verfahren eine einschneidende Erfahrung sowie Veränderung der Familiensituation dar.
Eltern mögen in vielen Fällen dem Jugendamt nicht trauen und aufgrund eines negativ besetzten Bildes, welches häufig mit dem Jugendamt verbunden ist, zögern, das Jugendamt einzuschalten. Das Zögern kann sich jedoch sehr schnell gegen sie wenden, sei es durch eine Eskalation des Konflikts, die Aufmerksamkeit und Meldung Dritter sowie die Verzögerung notwendiger Maßnahmen.
aus neue AKZENTE Nr. 102 / 2015