Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Öffentlichkeit
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Ein beherztes Buch. Die Autorin fasst langjährige ADHS-Eltern- und Selbsthilfeerfahrung treffend zusammen.
Vor über 20 Jahren führten Verzweiflung und Hilflosigkeit aufgrund von Wissenslücken und Informationsdefiziten in Öffentlichkeit, Psychologie, Medizin, Pädagogik und Familienhilfe zur Gründung von ADHS-Elternverbänden. Heute gibt es empirisch gesichertes Wissen zu ADHS mehr als zu irgendeiner anderen Störung des Kindesalters. Das Wissen nimmt weiter rasant zu.
Adäquaten Zugang zu diesem Wissen kann sich jeder Laie oder Profi beschaffen, nicht zuletzt bei den Eiternverbänden. Dennoch hat sich die problematische Situation der Betroffenen kaum geändert und die Versorgungslage, abgesehen von einigen Ballungszentren, wenig verbessert. Nach wie vor vereiteln langjährige diagnostische und therapeutische Odysseen, entwürdigende Falschanalysen und entmutigende Fehlberatungen zeitnahe und wirksame Hilfe. Wertvolle Entwicklungszeit betroffener Kinder geht unwiederbringlich verloren.
Die Autorin weist nach, dass diese düstere Realität keineswegs in einem Mangel an empirisch gesichertem Wissen gründet oder in Defiziten an auf Wirksamkeit, Effizienz und Verträglichkeit sorgfältigst getesteter Therapieoptionen. Dieser kinder-, familien- und gesellschaftspolitische Skandal basiert vielmehr darauf, dass sich viele Laien und Profis schwer damit tun, eine komplexe biopsychosoziale statt einer rein psychosozialen Verursachung der ADHS zu akzeptieren. Dieser »kleine Unterschied« bleibt für die Betroffenen und deren Familien natürlich nicht ohne Folgen.
Zu diesen dramatischen Folgen lässt die Autorin immer wieder die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Vor allem Mütter erzählen erschütternde Geschichten. Mütter und Familien, auf deren Schultern die Hauptlasten einer familiären ADHS abgeladen werden, kommen in der Fachliteratur, vor allem in der ADHS-kritischen, kaum selbst zu Wort. Die Erfahrungen der Betroffenen scheinen ADHS-kritische Fachleute eher zu stören. Stellen sie doch anscheinend fest gefügte Weltbilder in Frage und damit eine Bedrohung dar. Ätiologische und therapeutische Glaubenssysteme, die kindliche Entwicklungs- und/oder Verhaltensstörungen axiomatisch als Reaktion auf frühe Traumata, ungünstige Milieufaktoren, mangelhafte Erziehungskompetenz oder als Folge von Bindungs-, Interaktions- und Beziehungsstörungen interpretieren müssen.
Kindliches Problemverhalten wird durch eine »Psychobrille« gesehen, die ihrerseits zur intensiven Suche nach tieferem Sinn verpflichtet und legitimiert, Deutungsmacht verleiht und nach eigenem Selbstverständnis allein Expertise, unmittelbares Verstehen und Geltungsanspruch gewährt.
Dieser Denkansatz setzt in jedem Fall Deutungsbedarf voraus, weil Verhalten, Gefühle, Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen oder Erfahrungen aus psychodynamischer Sicht zunächst nicht ganz einfach und nahe liegend als spontane und authentische Lebensäußerung ohne interpretationsbedürftigen Hintersinn verstanden werden darf. ADHS-Kinder ereignen sich aber ganz unvermittelt. Sie werden der psychodynamischen Vorstellungswelt nicht gerecht.
Aus dieser »Psychoperspektive« verstecken sich beim Kind hinter jedem Verhalten ein verborgener Sinn, eine unbewusste Absicht, eine verschlüsselte Botschaft, ein ungestilltes Bedürfnis, ein unverarbeiteter Konflikt und damit ein verklausulierter Hilfeschrei. Unbewältigte Traumata, frühe Kränkungen, fragwürdige Projektionen, überspielte Defizite, unerfüllte Wünsche, verdeckte Absichten, abgewehrte Rollenerwartungen, übermächtige familiäre Vermächtnisse, uneingestandene Bedürfnisse, unerkannte Abwehrmechanismen, werden zu geheimen Motiven hinter dem Verhalten von Eltern erklärt.
Leider verstellt diese rein psychodynamische Schulsicht jedoch bei ADHS allzu leicht den Blick auf Offensichtliches, Faktisches, Objektivierbares und führt zu Einseitigkeit. Nöte, Sorgen, Ängste, Erschöpfung, Schuldgefühle, Hilflosigkeit, Depression, Verzweiflung von Eltern werden gedeutet statt ernst genommen, werden interpretiert anstatt Abhilfe zu schaffen.
Wie eine Sonnenbrille filtert die »Psychobrille« einen Teil des Informationsspektrums aus. Mitunter mag das angenehm und praktisch sein. So entsteht ganz automatisch, ja zwangsläufig in den Köpfen das Zerrbild einer Psychodynamik der ADHS-Familie, das durch Behörden, Presse und Öffentlichkeit geistert. Ein verhängnisvolles Zerrbild, das die Betroffenen heute noch täglich stigmatisiert und ausgrenzt.
Schlimmer noch: Gesichertes Wissen zu ADHS, soweit es im Widerspruch zu psychodynamisch gefilterten Sichtweisen steht, zwingt ADHS-Kritiker reflexhaft zur Aktivierung eines Arsenals von Abwehrmechanismen. So werden zwingende Fakten bagatellisiert, empirisch gesicherte Daten bezweifelt, Unterstellungen und Verdächtigungen formuliert, Verschwörungstheorien gebastelt, Scheinfronten eröffnet, finstere Motive unterstellt, vermutet, behauptet, kolportiert. Da wird verdrängt, abgewehrt, Widerstand geleistet, verbarrikadiert, übertragen, gegen-übertragen, agiert, frei assoziiert, fantasiert und projiziert, was die tiefenpsychologische Wundertüte hergibt. Empirische Forschung und Naturwissenschaftliche Methodik wird als reduktionistisch oder biologistisch diskreditiert. Der Krankheitswert von ADHS wird bagatellisiert, der Krankheitsstatus wird bestritten.
Dies alles wohlgemerkt von approbierten Profis in amtlicher Funktion in offiziöser Garantenstellung gegenüber betroffenen Hilfesuchenden, verzweifelten und leidenden Betroffenen und in offener Gegnerschaft zu den evidenzbasierten Leitlinien.
Eindringlich weist die Autorin auf die Bedrohlichkeit dieser Entwicklung hin und auf die Schadwirkung für die Betroffenen. ADHS ist eben keine gutartige Besonderheit.
Je kompetenter oder selbstbewusster Eltern auftreten, desto subtilere und schärfere Geschütze der Schuldverschreibung werden mitunter von ADHS-kritischen Beratungsfunktionären aufgefahren, die therapeutische Partnerschaft auf Augenhöhe fürchten.
Das Buch gewährt immer wieder neue, erschütternde Einblicke in ein düsteres Kapitel Versorgungs-, Therapie- und Stigmatisierungsrealität. Die Autorin zeigt eindrucksvoll auf, dass ADHS nicht Folge von Beziehungs- oder Bindungsstörungen ist. ADHS bei Kind und Eltern kann vielmehr die Entwicklung von Beziehung und Bindung empfindlich stören.
Die genetische Grundlage der ADHS wird von der empirisch orientierten Wissenschaft nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Frau Drüe schildert, wie sich auf dieser biologischen Basis die problematische psychosoziale Dynamik entwickelt. Die regelmäßig feststellbaren sozialen Risikofaktoren und Problemkonstellationen korrelieren hochgradig genetisch, bilden eine Generationen übergreifende Spur, oft in Form einer Abwärtsspirale, können also als in erheblichem Maße erblich angesehen werden. ADHS ist eine andere Art, die Welt zu sehen und auf sie zu reagieren.
Für ein Verständnis der Problematikdynamik ist es unerlässlich, so führt die Autorin überzeugend aus, zu sehen, dass in der Regel Kind und Eltern gemeinsam betroffen sind. Diese andere neuronale Netzwerknutzung beinhaltet für Kind und Eltern ein hochgradig biologisch mitbedingtes Anpassungsrisiko, eine Anpassungsstörung, bis hin zum Anpassungsversagen. ADHS erfordert, so die Autorin, von den Eltern als Laien ganztägig Expertise in sonderpädagogischen Spezialfähigkeiten. Wer mit ADHS-Kindern zu tun hat braucht zudem noch einen unendlich langen Atem, den stimmungslabile, zu Affekt- und Impulsdurchbrüchen neigende Eltern anlagebedingt nicht besitzen.
Aber auch selbst nicht betroffene Pflegeeltern scheitern mit ihren Adoptivkindern, wenn diese ADHS haben. Dies obwohl Pflegeeltern nach Qualifikationsnachweisen handverlesen werden. Auch diese Eltern sind von amtlichen Fehlinterpretationen bedroht, statt Hilfe zu bekommen.
So macht das Buch auch deutlich, dass das Leid und die Not der Betroffenen nur zum Teil in den Problemen ihrer Störung, der ADHS zu suchen sind. Not und Leid, Ausgrenzung und Chancenverweigerung ADHS-Betroffener werden vielmehr durch die von Menschen gemachte, rückständige Versorgungs-, Therapie- und Beratungssituation potenziert.
Kompetent weist die Autorin, selbst gelernte Pädagogin, darauf hin, wie in den Kontroversen um ADHS die alltagspsychologische Tradition der Schuldverschreibung ebenso gepflegt wird wie Allmachtsfantasien hinsichtlich der Wirksamkeit elterlicher Erziehung. An der Stelle wird zu Recht die »schlechte Presse« des ADHS und der medikamentösen Therapie beklagt.
Es ist schon bemerkenswert: Noch nie kümmerten sich so viele Mütter in reifem Alter mit höchstem Anspruch und Engagement um so wenige, oft lang ersehnte Wunschkinder. Noch nie wurde Müttern mehr Versagen, weniger Kompetenz, ein größerer Mangel an Empathiefähigkeit und Achtsamkeit vorgeworfen als heute.
Die Autorin erinnert uns an die Lastenübertragung bei schizophrenen Menschen auf deren Mütter. Diese wurden von der Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann als »schizophrenogen« geoutet. Ihr Kollege Bruno Bettelheim verortete in freier Assoziation die Ursache von kindlichem Autismus in bindungs- und beziehungsunfähigen »Kühlschrankmüttern«. Alte Gräben, neue Fronten, die Methoden sind geblieben.
Widerstand ist bekanntlich in einer Analyse zwecklos. Er gilt dem Fachmann sogar als pathognostisches Zeichen, als sicheres Indiz, in den gehüteten Kern der Tiefenproblematik gestoßen zu sein. Widerspruch verfestigt tiefenpsychologisch fundierte Voreingenommenheit. In diesem verminten Gelände findet derzeit die Arbeit der Elternselbsthilfe statt. In diesen Fallstricken verfangen sich heute die Betroffenen und geraten in die Mahlströme berufspolitischer Interessenkonflikte und Geltungsansprüche nach dem Motto: »Wem gehört das ADHS-Kind?«
Wie lange noch sollen ADHS-Kindern nachgewiesen wirksame Therapien verwehrt werden?
Wie lange noch soll Eltern reflexhaft Verantwortung und Schuld für ADHS und für Therapieversagen angelastet werden, um pädagogisches Wunschdenken, therapeutisches Unvermögen, professionalisierte Naivität, behördliches Scheitern an der Wirklichkeit, schulenspezifische Glaubensbekenntnisse, idealistische Elfenbeintürme und standespolitische Ränke vor der Wirklichkeit zu schützen?
Profis können von ihren Patienten und deren Eltern unendlich viel lernen.
Eltern sind die berufenen Fachleute für ihre eigenen Kinder, weil sie sie am besten kennen und von Natur aus lieben. Ausnahmen bei Fachleuten wie bei Eltern bestätigen die Regel.
Mühsam, zäh und in kleinen Trippelschritten wird die Situation trotz vehementer Widerstände besser.
Mitunter erkennt die Autorin auch Licht am Ende des Tunnels. Immer mehr Profis machen vom Wissen über die am intensivsten untersuchte neuropsychologische Störung des Kindesalters Gebrauch. Immer mehr Profis erkennen die Bösartigkeit dieses chronischen Störungsbildes, dessen gesellschaftliche Relevanz und die soziale Sprengwirkung bei weiter anhaltender Ignoranz durch Ämter, Schulen, Hilfseinrichtungen, Ausbildung und Lehre, Kassen und Politik. Dennoch ist es nach wie vor reine Glückssache, an wen Betroffene geraten. Interdisziplinäre Qualitätsstandards wurden zwar bereits 2002 in einem Eckpunktepapier festgeschrieben, werden jedoch unter anderem wegen leerer Kassen unterlaufen.
Eine notwendige, längst überfällige Streitschrift, die den Finger in Wunden legt, Zusammenhänge und Interessenverstrickungen aber auch Perspektiven aufzeigt. Ein verdienstvolles Betroffenenbuch, das die Erfahrungen in der ADHS-Elternselbsthilfe treffend und authentisch wiedergibt. Ein aufrüttelndes Buch, das dogmatische ADHS-Kritiker zu Interpretationen und Häme herausfordern wird. Ein mutiges Buch, das die unvoreingenommene Lektüre durch die Fachwelt verdient.
Dank an die Autorin. Meine Empfehlung: Lesen!
Dr. Rupert Filgis
aus neue AKZENTE Nr. 75/2007
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»Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.« Dieser an exponierter Stelle des Buches zitierte Ausspruch stammt von keinem Geringeren als Albert Einstein. Das Zitat zielt genau auf den inhaltlichen Schwerpunkt, der in dieser Rezension besondere Beachtung finden soll: Von der unausrottbaren Meinung, dass der Mensch nichts als ein Produkt seiner Umgebung ist und den vielen verhängnisvollen Schlüssen, die daraus gezogen werden, berichtet dieses Buch. Die Autorin Gerhild Drüe, ehemalige Hauptschullehrerin, jahrelang erfahren in der Selbsthilfearbeit, hat zusammengetragen, was ungezählte Eltern, meist Mütter, an Fehlurteilen zu ADHS, an Etikettierungen, Schuldzuweisungen und Demütigungen erlebt und ertragen haben. So darf man eben - immer wieder - und immer noch - die längst erkannte genetische Disposition und die neurobiologische Funktionsstörung außen vor lassen und Erziehung als einziges Mittel bei der Bewältigung der ADHS-Problematik favorisieren.
Natürlich ist Erziehung wichtig, sehr wichtig sogar. Doch das ist leider nur die halbe Wahrheit, und die halbe Wahrheit ist immer eine ganze Lüge. Die Autorin hat in einer enormen Fleißarbeit alle gesellschaftlichen Gruppierungen, die, meist ohne es zu wissen, mit ADHS zu tun haben, abgeklopft und auf ihre Einstellung hin untersucht und ist zu erschreckenden Ergebnissen gekommen: Ob das jetzt namhafte Erziehungs- und Fachwissenschaftler sind oder Personen des öffentlichen Lebens, die Erziehungsbücher schreiben (nichts dagegen, alles dafür solange sie sich nicht zu ADHS äußern), ob das Psychologen, Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beratungsstellenmitarbeiter oder alle Arten von Medien sind: die einen müssten es wissen, aber wollen es oft nicht zur Kenntnis nehmen, die anderen verbreiten Halbwissen, Vorurteile, Ignoranz und viel Hilflosigkeit. Es werden Mütter beschrieben, die nach einer Odyssee der Hilfesuche für ihre ADHS-Kinder sich auch mal in der Wahl ihrer erzieherischen Mittel vergreifen, nicht, weil sie von deren Sinn überzeugt sind, sondern weil ihnen einfach die Sicherungen durchbrennen. Diese Mütter stehen oft am seelischen Abgrund und bekommen dann als »Hilfe« auch noch den »Schwarzen Peter« zugeschoben: »Das Kind ist Symptomträger«, »Sie haben wohl nicht ...«, »Sie können wohl nicht ...«. In der ADHS-Szene - diese Erfahrung geht quer durch alle Selbsthilfearbeit - stehen immer wieder die Mütter am Pranger. Die Väter, oft selbst von ADHS betroffen, halten sich gerne abseits. Deshalb feiert das sog. motherhunting (Neudeutsch für: Jagd auf Mütter) fröhliche Urständ: »Der braucht Konsequenz ...« (stimmt), »Der braucht Struktur ...« (stimmt auch), »Der braucht Liebe ...« (wie wahr). Aber was er noch braucht, ein Medikament, das ihn befähigt sich so zu steuern, dass er Konsequenz aushalten, Struktur durchschauen und Zuwendung annehmen kann, genau das bekommt er oft nicht. Wenns schief läuft, ist ja die Schuldige nicht weit.
Kurzum: Wir sind noch lange nicht da, wo wir gerne wären. Das wird in diesem Buch sehr deutlich. Deswegen ist bei der Lektüre Vorsicht geboten, sie könnte einen mutlos machen. Es ist auf gar keinen Fall ein Elternhandbuch. So einfach herunterlesen kann man das Buch ohnehin nicht. Der Inhalt wird sehr dicht und konzentriert geboten. Die Kapitel sind oft recht lang und weder durch Bilder, Diagramme oder was auch immer aufgelockert. Man sollte sich deshalb die einzelnen Themen kapitelweise in Ruhe vornehmen und sich dann ärgern. Das ist beabsichtigt. Ob allerdings die Adressaten durch Ärger endlich den Lernprozess schaffen, von dem »Entweder« (Erziehung) »Oder« (das oft noch geächtete Medikament) zu einem für alle Betroffenen förderlicheren »Sowohl - als auch« zu kommen, das steht noch dahin.
Vorerst ist eine andere Forderung zu stellen, die die Autorin anmahnt: Es müssen endlich von den Kultusministerien verordnete Fortbildungskonzepte her. Diese sollten inhaltlich mit den Fachverbänden und ausgewiesenen ADHS-Fachleuten abgeglichen und kontrolliert durchgeführt und nicht wie bisher der Beliebigkeit überlassen werden. Die gleiche Forderung geht an die Ausbildung der Erzieherinnen.
Was die Autorin sonst noch an Wünschen hat und welche anderen vielfältigen Facetten das ADHS-Bild abrunden - für Neugierige und Lernfähige hält das Buch jede Menge Zündstoff bereit. Es zu schreiben hat Mut gekostet.
Es war längst überfällig. Respekt, Frau Drüe!
Margarete Gatzen
aus neue AKZENTE Nr. 75/2007
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Geschichte(n) des Gestörtseins
In der Einleitung des besten Elternratgebers zum Thema ADHS, Russell A. Barkley’s »Taking Charge of ADHD« berichtet der Autor von einer Mutter, die eines Tages in seine Praxis kam. Als er das Gespräch eröffnete, habe er erwartet, dass sie die üblichen Klagen vorbringen würde: »Mein Kind versagt in der Schule« oder »Mein Kind hört nicht auf mich«. Doch die Mutter sagte nur einen Satz, der ihn schockierte und verwirrte: »Helfen Sie mir, ich verliere mein Kind!«
Das unfassbare Leid
Barkley ist Arzt und Psychologe. Er war einer der ersten Neurologen, die sich in den USA mit ADHS befassten. Wahrscheinlich hat er im Rahmen seiner Ausbildung auch einmal in einem »Emergency Room« gestanden – zwischen Knochenbrüchen, Schusswunden und Eltern mit röchelnden Babys. Unter dem Eindruck dieser sichtbaren, mit Händen greifbaren Krankheiten machte die Angst einer Mutter Sinn: »Helfen Sie mir, ich verliere mein Kind!« Doch in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis, zwischen zappelnden Kindern mit Tics und Rechtschreibproblemen, die im Alter von zehn Jahren nachts noch einnässen, – was rechtfertigte da die Angst vor dem Verlust des Kindes?!
Die Stärke von Gerhild Drües Buch »ADHS kontrovers. Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Öffentlichkeit« ist die eindrückliche Beschreibung dieses unfassbaren Leide(n)s. Nicht, dass dieses Leid jedes Maß überstiege und mit keinem anderen Elend, das in Familien herrschen mag, zu vergleichen wäre. Unfassbar ist das Leiden an ADHS, weil es am einzelnen Menschen, in der besonderen Familie, in genau diesem Klassenzimmer, dieser Fabrikhalle, diesem Ferienlager, diesem Sportverein so schwer zu sehen, zu beurteilen und zu akzeptieren ist. Es ist ein Leiden am Anderssein und Anders-wahrgenommen-werden, ein Leiden an der Furcht vor dem Andersbleiben und Nicht-anders-werden-wollen. Man kann einen Menschen auch dadurch verlieren, dass man ihn nicht mehr versteht. In dem bekannten Film »Philadelphia« über den an AIDS erkrankten Rechtsanwalt Andy Beckett liest dieser in einem Buch, das frühere Gerichtsfälle zur Diskriminierung bei Krankheiten beschreibt. Da heißt es, dass der soziale Tod dem physischen häufig vorausgehe. Was wird aus einem Kind, das sich nicht beherrschen kann? Das nicht die Aufmerksamkeit aufzubringen vermag, seine Umwelt zu begreifen? Einem Kind, das sich in seiner Wut gegen andere und sich selbst wendet? Ist es aber meine Angst um mein Kind, wie fassbar wird das Leid der Mutter, die ihr Kind nicht mehr verstehen, nicht mehr halten, nicht mehr schützen kann. »Helfen Sie mir, ich verliere mein Kind!«
Steine im Weg
Das umfangreichste Kapitel in Drües Buch ist »Steine im Weg« überschrieben. Es ist die Angel zwischen dem Leiden und dem Umgang mit dem Leiden, die Verbindung zwischen dem privaten Elend und seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung. Es ist das beste Kapitel, da es eine leicht wilde, doch authentische, ja notwendigerweise emotionale Auseinandersetzung mit dem Schwachsinn darstellt, dem Betroffene, Eltern und Fachleute im Zusammenhang mit ADHS im Alltag begegnen. Von Freud, der das Unbehagen in der Kultur als einer der ersten zum therapeutischen Geschäft machte, zu den Erziehungsratgebern von heute, deren bestes Verkaufsargument die Unsicherheit der Eltern in der Gesellschaft ist – es hat sich nicht viel getan in einhundert Jahren. Noch immer gehen die Priester und Leviten der öffentlichen Meinung an den Geschlagenen vorbei, weil es einfacher und billiger ist, den Finger in Wunden zu legen, als die Wunden zu verbinden. Drüe entlarvt die Schwätzer unter den Pädagogen und Therapeuten, Gelehrten und Journalisten, die nach jahrzehntelangen Forschungen zur ADHS noch immer verkünden, dass dies private Elend nur Ausfluss der gesellschaftlichen Perspektive sei. Als lebten wir alle aus freiem Entschluss in der Welt, die wir wollten, als hätten alle Eltern gerade die Kinder, die sie verdienten.
Anerkennenswert ist das Aufzeigen der Steine im Weg nicht zuletzt, da es in der Hilflosigkeit etwas wunderbar Trotziges hat. Wie oft ist nicht bereits über die üblichen Verdächtigen geschrieben worden: Esoteriker, die Grünzeug aus dem Tümpel nebenan als »natürliches Heilmittel« verkaufen; selbsternannte Heiler, welche die eigene Konzeptlosigkeit angesichts eines scharf umrissenen Störungsbildes als »ganzheitliche Behandlung« verbrämen; Journalisten in Erbämtern der trendgeleiteten Hofberichterstattung, die aus dem Elfenbeinturm der Kinderlosigkeit den Charme des kleinen Rebellen beschwören, der die Lehrerin in der zweiten Klasse mit »Arschloch« betitelt und sich, sozial offenbar völlig verständlich, mit 15 Jahren durch Drogenkonsum aus Schule, Arbeit und sozialer Verantwortung stiehlt. Zugegeben, das sind auch Klischees, doch darum geht es ja – um das Benennen und Überwinden dieser zu Versatzstücken der gesellschaftlichen Diskussion verkommenen Vorwürfe an die Adresse des je anderen. Es geht um das Bewusstsein, dass diese Steine im Weg nicht einfach die Konditionen eines schicksalhaft bestimmten Lebens sind, sondern die Vorurteile, die Schuldzuweisungen, die Ausschlüsse, mit denen wir jeden Tag unseres Lebens konfrontiert sind. Und die vielen, die mit ADHS zu tun haben, das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.
Call of Nature
Da aber sind wir schon bei den Schwächen des Buchs, die jeder nach eigenem Gusto verzeihen möge. Drüe kann sich ungeachtet mehrfacher Ansätze, die Erziehung keinesfalls völlig der Reifung des Gestörten unterzuordnen, in ihrer Argumentation nicht aus dem Gegensatz von Anlage und Umwelt lösen. Dabei leben wir Menschen zu hundert Prozent aus unseren Genen und zu hundert Prozent mit unseren Erfahrungen. Darüber hinaus verwischt Drüe die Grenze zwischen Aggression und Sozialverhalten; ersteres ist Biologie, zweites Soziologie. In dieser notwendigen Unterscheidung ist ADHS erwiesenermaßen der Biologie zuzuordnen: Es ist eine auffällige Variation menschlicher, mutmaßlich aber auch tierischer Verhaltensdisposition mit signifikanten Schwierigkeiten in der Impulskontrolle und Willkürsteuerung der Aufmerksamkeit. Lügen, Stehlen, Drogenkonsum und gewalttätiges Handeln sind hingegen erworbene Verhaltensweisen. Man kann sie mit der Behandlung der ADHS beeinflussen wie mit Ausgrenzen und Einsperren – man reduziert den Drang und die Gelegenheit, schafft jedoch keine Moral als Voraussetzung ehrlicher Einsicht und des bewussten Wunsches nach Selbstbeherrschung.
Dieses Gefühl des Mangels, als ob die Autorin genau wüsste, was sie nicht will, nicht aber, was zu wünschen ist, beschleicht den Leser auch angesichts eines dritten großen Themas, welchem im Buch sogar ein eigenes Kapitel gewidmet ist: die Medikation der ADHS. Recht hat Drüe, wenn sie die allgegenwärtige, meist dilettantische Kritik an der medikamentösen Behandlung vom öffentlichen Diskurs auf die privaten Dilemmata herunterbricht. Ist absehbar, dass mein aufmerksamkeitsgestörtes Kind nur unter Qualen Lesen und Schreiben lernen wird, da es seinen Blick kaum eine Sekunde auf ein paar Buchstaben richten kann, werde ich es als mitleidende Mutter doch nicht jahrelang weitgehend erfolglos mit zusätzlichen Lernstunden traktieren! Welcher Vater, der die Entwicklung seines Sohnes mit Sorge um dessen Zukunft verfolgt, wartet brav auf die nächste unsägliche Reform des Gymnasiums, damit der begabte, aber impulsive Filius auch unter erziehungsunfähigen Fachlehrern sein Abitur machen kann?! Allerdings: Auf Dauer profitieren Kinder wie Erwachsene von einer Medikation der ADHS nur, wenn sie wissen, was sie besser machen wollen und müssen, wenn sie es denn besser können. Da wäre es gelegentlich hilfreich, wenn Betroffene wie Betreuende ihre Sensibilität nicht nur auf die Kritik an der eigenen Person verwenden würden, sondern nachgerade auch auf das, was in unserer Gesellschaft wichtig ist, Störung hin oder her. Leistung zum Beispiel. Anstand, Höflichkeit und Manieren bei Tisch. Eine grundsätzliche Achtung vor Regeln, sollten diese bisweilen auch zum eigenen Nachteil gereichen. Dann kann man den Gegnern der Medikation guten Gewissens entgegenhalten: Ich gebe meinem Kind Tabletten, damit es Ihren Ansprüchen genügt – damit es Psychologe, Arzt und Autor werden kann wie Sie, was es aufgrund einer Laune der Natur ohne Tabletten nicht schafft...
Helfen Sie mir!
Da ich wusste, dass ich nach der Lektüre des Buches eine Rezension über es schreiben würde, hatte ich sogleich an die Barkley-Anekdote zur Einleitung gedacht. Als ich das fünfte Kapitel begann, bemerkte ich mit einem Schmunzeln, dass die Autorin denselben Satz des Amerikaners zitierte. Siehst Du, sagte ich zu mir selbst, im Grunde seid ihr beide doch einer Meinung. Ja, das sind wir, denn es geht darum, für Menschen einzutreten, die meist viel mehr wollen als sie können. Ohne Hilfe wollen viele von ihnen jedoch schon in der Grundschule nichts mehr können, und irgendwann können sie in Verzweiflung und Resignation nichts mehr wollen. Das ist das Elend der ADHS in einer Gesellschaft, die so vieles vom Einzelnen als selbstverständlich voraussetzt, sich in ihrer Öffentlichkeit aber den Anschein gibt, alles zu verstehen und alles zu billigen. Hierin liegt der tiefe Kern der Kontroverse um dieses Störungsbild verborgen, und es ist gut, dass die Autorin wenigstens ein bisschen an der Oberfläche des weitenteils verlogenen Diskurses gekratzt hat. Helfen Sie mit, weitere Schichten aus Vorurteilen, Klischees und Halbwahrheiten zum Thema ADHS abzutragen. Am besten, indem Sie mit Ihrer glücklichen Familie erfolgreich sind...
Dr. J. Streif